Skip to content
  • Deutsch
  • English
  • Français

Kein Platz an Spaniens Sonne

Stern, Heft 41, 10. Oktober 1959

Für Peseten kann man alles kaufen – aber Peseten zu haben, ist das Privileg jener wenigen Auserlesenen, die an der Macht sind und diese Macht ausnutzen, um noch reicher zu werden. Madrid, Barcelona, Valencia, alle Prunkstädte Spaniens sind die Symbole dieser Zusammenballung von Kapital, das man unerbittlich aus dem Lande herauspumpt, um es in unproduktivem Luxus anzulegen. Hinter dieser Fassade leben Männer ohne Hoffnung, Frauen mit versteinerten Gesichtern, Kinder ohne Zukunft. Die Herren des Landes haben die Peseten. Aber für das spanische Volk ist das tägliche Brot nicht der selbstverständliche Verdienst getaner Arbeit, sondern der fragliche Erlös eines bitteren täglichen Kampfes.

„Hier können Sie nicht stehen bleiben. Hier ist strengstes Parkverbot.“ Wir halten in einer Straße, wo rechts und links, hinten und vorn viele andere Wagen parken. Ich mache den Wachtmeister darauf aufmerksam.
„Die haben besondere Erlaubnis“, schreit er, „Sie dürfen hier nicht halten.“
„Na schön, wenn es besondere Bestimmungen für Ausländer gibt“, murmele ich vor mich hin und lasse den Motor wieder anspringen. Dabei sehe ich, wie fünfzig Meter vor mir ein anderer Polizist neben einem anderen Wagen verhandelt. Für den scheint es auch verboten zu sein. Oder nicht? Anstatt wegzufahren, öffnet ein Chauffeur in blauer Livree die Tür, überquert die Straße und steuert auf einen elegant gekleideten Herrn zu, der gelangweilt auf einer Café-Terrasse seinen Manzanilla schlürft. Sie sprechen einen Augenblick zusammen, dann sehe ich, wie der Herr in seine Tasche greift und dem Chauffeur etwas in die Hand drückt. Kaum ist dieser wieder bei seinem Wagen angekommen, da verschwindet dieses Etwas im Handumdrehen in der Tasche des Polizisten, der nachlässig davonschlendert.
„Ach so“, sage ich zu meinem Polizisten, „das hätten Sie mir doch gleich sagen können. So viel Anschauungsunterricht war gar nicht nötig.“
Ich gebe ihm 5 Peseten. Er nimmt sie zögernd. Etwas schüchtern sagt er:„Ausländer kennen die hiesigen Verhältnisse nicht …“ Dann dreht er sich ohne ein weiteres Wort um und geht seinem Kollegen nach.
Als wir auf dem Bürgersteig stehen und suchend die Straße hinunterblicken, steht er wieder neben uns. „Wo wollen Sie hin?“ fragt er liebenswürdig. „Zum Luftfahrtministerium.“ Er erklärt uns umständlich den Weg, und plötzlich, ohne Übergang, sagt er: „Sie müssen verstehen, ich verdiene 1120 Peseten im Monat (80 DM) …“

In diesem Elend leben Millionen spanischer Kinder. Sie können nicht lernen, nicht richtig erzogen werden, nicht einmal richtig spielen. Sehr jung schon hören sie auf, Kinder zu sein, weil auch sie arbeiten müssen, um die kleineren zu ernähren

Ein Gehalt genügt nicht

Das Luftfahrtministerium gehört zu jenen unzähligen Monumentalbauten der letzten 20 Jahre, mit denen Franco, durch die bewußte Kopie des Escorialstils, eine ebenso bewußte Beziehung zwischen jener ruhmreichen Epoche Spaniens und seinem Regime herstellen will. Als wir eintreten, verlieren wir uns zunächst in einem Labyrinth von marmorbelegten Treppen und Gängen. Es sieht prunkvoll aus. Weniger prunkvoll ist das Büro, in das man uns endlich führt, und wo ich nach Manolo Greco frage, dem wir von Freunden aus Barcelona eine Botschaft zu überbringen haben.
„Herr Greco ist nicht hier“, lautet die lakonische Antwort.
„Aber er arbeitet doch hier.“
„Ja, am besten erreichen Sie ihn zwischen 12 und 15 Uhr.“
„Ist er denn nicht fest angestellt?“ will ich wissen.
„Aber natürlich.“
Der Beamte, der mir antwortet, kritzelt in einem Heft und hat bis jetzt nicht einmal aufgeblickt.
„Wo ist er denn jetzt zu erreichen?“ frage ich wieder.
Der kleine Mann im grauen, abgeschabten Anzug dreht sich müde nach mir um. Seine Augen drücken kein Interesse, kein Erstaunen, nichts aus.
„Im Kino“, sagt er.
„Während der Bürostunden im Kino?“
Sein Gesicht verzieht sich einen Augenblick, als versuche er zu lächeln. „Ja, aber er sitzt an der Kasse.“ Etwas bestimmter, energischer fügt er hinzu: Er muß arbeiten, um seine vier Kinder zu ernähren. Hier verdient er nur 1400 Peseten (100 DM).“
Er dreht sich wieder seinem Heft zu und flüstert: „Ich wasche nachts Autos.“
Jeden Tag begegnen uns Beispiele dieser Art. Für das spanische Volk ist das tägliche Brot nicht der selbstverständliche Lohn getaner Arbeit, sondern der fragliche Erlös eines täglichen, bitteren Kampfes.
Vor dieser Not hat Franco seine Prunkbauten errichtet, um die Größe seiner Mission zu demonstrieren. Selbst die Fabriken, die mächtiger aussehen als mittelalterliche Festungen, sind zum großen Teil nichts als Fassade. Was sie herstellen, ist für den inländischen Markt zu teuer und im Ausland nicht konkurrenzfähig.
Ein Fiat 1400, in Barcelona hergestellt, kostet 170.000 Peseten (12.000 DM). Ein DKW-Kombi spanischer Fabrikation: 10.000 DM. Eine Isetta: 4600 DM. Und das ist noch billig, im Vergleich mit den eingeführten Wagen, bei denen sich einschließlich Einfuhrerlaubnis, Trinkgeldern usw. folgende Preise ergeben: Volkswagen = 23.000 DM; Opel Kapitän = 32.000 DM; Mercedes 180 = 37.000 DM.
Aber wer soll das bezahlen, wenn die monatlichen Gehälter so aussehen:

  • Universitätsprofessor 380 DM
  • Lehrer 100 DM
  • Elektriker 280 DM
  • Hauptmann 185 DM
  • Mechaniker 300 DM
  • Angestellter 120 DM
  • Bauarbeiter 80 DM

und wenn die Grundnahrungsmittel nicht sehr viel billiger sind als in Deutschland.

Aus diesem Elend führen für die meisten nur drei Wege: Priester werden, Tänzer oder Stierkämpfe. Berufe, von denen alle Armen träumen und auf die sie sich von Kindheit an vorbereiten. Aber nur wenigen gelingt dieser Sprung zum Erfolg und aus der Not. Die anderen bleiben, wie ihre Väter, ungelernte Arbeiter und verdienen vielleicht eines Tages 100 DM im Monat. Damit können sie ihren Kindern wieder keine andere Zukunft bieten als den Traum des fernen Märchenlandes der Kanzel, der Bühne und der Arena

Sieger an der Futterkrippe

„Wer das bezahlen soll“, schreit Enrique mich an, der finanzielle Berater einer großen Bank, „„das fragst du mich im Ernst? Spanien natürlich. Das ganze Volk muß blechen, damit hunderttausend Familien solche Wagen kaufen können. Ich gehöre dazu – zu diesem oberen Hunderttausend. Deshalb kannst du mir glauben, wenn ich dir sage, daß wir das Land so gründlich auspumpen, wie es die Feudalherren früherer Jahrhunderte nicht fertiggebracht haben.“
Wir schlendern Arm in Arm die Castillana, die Prachtavenue von Madrid, hinunter. Enrique spricht so laut, daß einige Spaziergänge sich nach uns umdrehen. Aber er läßt sich dadurch nicht stören.
„Die Sache ist sehr einfach. Mit dem Ende des Bürgerkrieges, vor 20 Jahren, übernahm Franco die Macht. Alle beugten sich vor dem Sieger. Es gab keine Opposition, keinen Widerstand. Das Proletariat und die Republikaner waren mit den Waffen niedergeschlagen worden. Die Bürger, die Besitzenden, waren gerettet worden. Der Schreck war ihnen derart in die Glieder gefahren, daß sie ihrem Retter alle Rechte zugestanden. Franco schien der gottgesandte, einstimmig angenommene Führer.
In Wirklichkeit wurde er der Schiedsrichter zwischen zwei Gruppen, die zwar gemeinsam den Krieg gewonnen hatten, sich aber unversöhnlich gegenüberstanden. Einerseits die faschistische Falange mit ihrer Forderung nach sozialer Revolution; andererseits die Konservativen, die Monarchisten und die Kirche, die sich auf das Heer stützen und jede soziale Reform ablehnen. Da Franco keiner der feindlichen Tendenzen den Vorrang geben konnte, ohne seine eigene Stellung zu gefährden, spielte er sie geschickt gegeneinander aus. Damit blieb er bis heute das entscheidende Zünglein an der Waage.
Aber was nützt es, Sieger zu sein, wenn man seinen Sieg nicht auswerten kann? Da sie es politisch nicht durften, gab es nur einen Weg: reich werden. So reich werden, daß einem die ganze Politik egal sein kann und es im Grunde nur noch eine politische Richtlinie gibt: noch reicher werden, um Gottes willen nichts tun, was die goldenen Futtertöpfe ins Wanken bringen kann. So gelang es Franco, ihren politischen Eifer zu dämpfen und ihren Streit zu schlichten, indem er ihnen allen erlaubte, sich die Taschen vollzustopfen.
Eine besondere Begabung ist dazu nicht nötig, wenn die Wirtschaft gleichgeschaltet ist und man selber am Drücker sitzt. So wurden kleine Minister zu Großgrundbesitzern, arme Parteisekretäre zu Bankiers, unterbesoldete Generäle zu Industriekapitänen.
Als einige besorgte Männer Franco vor den katastrophalen Folgen einer solchen Korruption warnten, antwortete er: „Diese Generation hat genug unter dem Krieg gelitten. Es ist nur recht, daß sie nun den Sieg genießt …“

Kennen Sie Gana?

Enrique dreht sich plötzlich um. „Entschuldige mich einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.“
Im Laufschritt holt er zwei junge Frauen ein, die an uns vorbeigegangen waren, und spricht eindringlich auf sie ein. Ich glaube zunächst, daß es sich um Bekannte handelt, die er begrüßen will. Aber warum wenden sie dann ostentativ ihre Köpfe von Enrique ab?
Enrique scheint davon nicht im geringsten berührt. Er bleibt ihnen dicht auf den Fersen. Als ich schon anfange, mich seiner Zudringlichkeit wegen zu genieren, ruft er mir zu allem Überfluß noch zu: „Gordian, komm mir zu Hilfe. Diese Mädchen sind gefühllos wie Scharfrichter.“
Ich bin so lange nicht mehr in Spanien gewesen und nicht lange genug wieder hier, um dieses Spiel normal zu finden. Ich weiß zwar, und die schmunzelnden Zuschauer beweisen es, daß es ein gängiges, lustiges Spiel ist, an dem keiner Anstoß nimmt, am wenigsten die beteiligten Mädchen.
Als ich schüchtern und ein wenig vorwurfsvoll den Kopf schüttele, schreit Enrique über die Straße:
„Ach, ihr Ausländer! Auf euch ist nie Verlaß. Du kannst doch einen Freund nicht in der schlimmsten Situation seines Lebens im Stich lassen.“
Die Mädchen können ein Lächeln nicht verkneifen. Enrique tut, als ob er es nicht sähe.
„Schau her“, ruft er, „wie soll ich allein diesen wundervollen, aber ach so kalten Statuen beibringen, daß sie in diesem Augenblick das zartfühlendste Herz von Madrid mit Füßen treten.“ Er greift sich an die Brust. „Komm, hilf mir. Sag du’s ihnen. Bist du Journalist oder bist du keiner?“
Wenn man mir mit beruflichem Ehrgeiz kommt, kann ich natürlich nicht Nein sagen. Mit langen Schritten hole ich die Gruppe ein.
„Enrique ist das zärtlichste Wesen der Welt“, sage ich trocken.
„Aber nein, Gordian, nicht so“, wettert er, „du mußt etwas nordische Romantik mitbringen, die steht im Augenblick hier ganz besonders hoch im Kurs. Ich übernehme die Rolle des leidenschaftlichen Spaniers, und du wirst sehen, wie unsere Mischung diese Eisberge zum Schmelzen bringt.“
Mittlerweile haben die beiden Mädchen es ohne jeden Protest erlaubt, daß wir neben ihnen dahinbummeln. Einer links. Einer rechts. Es kostet sie einige Mühe, ernst zu bleiben und doch bringen sie es fertig, sich so zu benehmen, als seien wir Luft. Sie sind beide sehr hübsch. Beide blond. Von jenem warmen, venezianischen Blond, daß wie Altgold glänzt und die schwarzen Augen umso dunkler erscheinen läßt. Zwanglos führen sie ihre Unterhaltung weiter, während Enrique und ich uns über ihre Köpfe hinweg zurufen, wie schön sie sind.
Erst als sie plötzlich vor einem Haus haltmachen, merken wir, daß wir seit langem die Castillana verlassen haben. Sie gehen zu Tür. Wir bleiben stehen. Als wir höflich gute Nacht wünschen, drehen sie sich beide kurz um und grüßen mit einem flüchtigen Lächeln.
„So“, sagt Enrique, „normalerweise müßten wir jetzt jeden Abend um diese Stunde hierherkommen, um vielleicht nach dem zehnten Mal mit ihnen sprechen zu können. Aber die jungen Damen haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ich kenne dieses Haus. Der Fahrstuhl ist vorsintflutlich. Da kann alles passieren. Komm.“
Wir rasen die Treppe hinauf, daß uns der Atem ausgeht. Im dritten Stock hören wir den Fahrstuhl ankommen. Enrique ergreift die Tür und öffnete sie mit einer großen Verbeugung. – Die beiden Mädchen brechen in schallendes Gelächter aus.
„Has ganado“, sagt die eine, „Du hast gewonnen.“
Striche untenIch bin Enrique“, antwortet er.
Striche untenIch heiße Aurora“, sagt sie. „Aber jetzt müßt ihr schnell verschwinden.“
„Und was hast du nun erreicht?“ frage ich Enrique, als wir wieder vor dem Haus stehen.
Er lächelt mich an, voller Nachsicht und Mitleid. „Oh, ihr unverbesserlichen Sachlichkeitsnarren. – Zunächst einmal habe ich eine halbe Stunde lang den Ernst des Lebens vergessen. Ich habe wohltuende geistige Gymnastik getrieben, indem ich mir das Gehirn mit Albernheiten sauber gefegt habe. Dabei habe ich ein entzückendes Mädchen kennengelernt, mit dem ich von nun an auf der Straße plaudernd darf. Im übrigen hatte ich genug davon, über Politik zu reden. ‚No me dava la gana. – Ich hatte keine ‚ gana‘.“
Wenn ein Spanier von „gana“ redet, wird jedes Argument sinnlos. Gana ist weder Lust noch Laune noch Wunsch, nichts, was dem Willen untersteht oder durch äußere Umstände zu beeinflussen wäre. Man hat sie oder man hat sie nicht. Sie ist ein plötzlicher Impuls, etwas zu tun oder es nicht zu tun. Ein Befehl, einen Muß, dem man nicht entrinnen kann und das keine Rechtfertigung verlangt.
„Cada uno hace lo que le da la gana“ (jeder lebt nach seiner Gana), ist nicht nur ein gängiges Sprichwort, sondern das Recht, das jedem Spanier zuerkannt wird, diesem mysteriösen Impuls zu leben. Sie ist der Ausdruck der unabhängigen Persönlichkeit eines jeden.
Als die spanische Legion mit den deutschen Truppen in Rußland kämpfte, fand der deutsche Generalstab sie eines Morgens weit hinter den feindlichen Linien und mußte starke Verbände einsetzen, um die Spanier vor der Vernichtung zu retten. Dem spanischen Kommandanten war über Nacht die Gana gekommen, anzugreifen. – Auf die Dauer wurde diese Gana strategisch so untragbar, daß die spanische Legion von der Front abgezogen werden mußte.
Vor vielen Jahren saß ich einmal mit einem Oberst der spanischen Luftwaffe in Valencia in einer Bar. Wir sprachen über die Ehe. Plötzlich sprang er auf. „Ich muß mein Junggesellenleben aufgeben“, rief er. „Ich werde die erste Frau heiraten, die durch diese Tür kommt.“ Es war eine Prostituierte. Er machte sie zu seiner Frau – porque le dava la gana.
Gana war es auch, die Enrique plötzlich hinter den Mädchen herlaufen ließ.

Caféhaus – das Parlament der Opposition

Ich schlendere also mit Enrique langsam wieder die Castillana hinauf. Es ist Mitternacht. Sehr früh für einen spanischen Sommerabend. Es ist die Stunde, zu der Kindermädchen mit weißen Piquékleidern und von Goldnadeln gehaltenen Spitzenhäubchen prinzipiell in Spitzen gewickelte Kinder in englischen Landauern spazieren fahren. Es ist auch die Stunde der Tertulia.
Tertulia ist ein ebenso unübersetzbarer Begriff wie Gana. Der Stammtisch kommt ihr vielleicht am nächsten. Männer sitzen um Cafétische und sprechen stundenlang über die Ereignisse des Tages, über Politik und die Skandalgeschichten der Stadt. Man gehört zu einer Tertulia, wie man zu einem Club gehört (ohne natürlich Eintrittsgeld zu zahlen), oder zu einer Sekte.
Im Café G. ist die Tertulia amüsanter als irgendwo anders. Hier treffen sich täglich Maler, Schriftsteller, Rechtsanwälte und Aristokraten, die zur intellektuellen Elite Spaniens gehören.
„Die werden Gesichter machen, wenn sie dich sehen“, sagt Enrique. „Ich habe nicht verraten, daß du wieder hier bist.“
„Sind es immer noch dieselben?“
„Natürlich. Wo kämen wir hin, wenn wir nicht wenigstens unsere Tertulia hätten, um frei reden zu können?“
Wahrhaftig, dort sitzen sie, wie vor zehn Jahren. Fernando, der Anwalt, der mittlerweile berühmt geworden ist durch seine sensationellen Plädoyers. Paco, der Psychiater, Spezialist für beißende Anekdoten. José, der Maler, der sich von Zeit zu Zeit den Luxus leistet, die Mauern der Häuser mit politischen Karikaturen zu bepinseln und dafür ins Gefängnis zu gehen. Viktor, der „rote“ Graf, der Diplomat.
Wie wohl es tut, Spanien wiederzufinden, diese gescheiten Männer, die an der Spitze der internationalen Elite stehen würden, wenn Franco es erlaubte, ihren Ruf über die Grenzen dringen zu lassen!
Wir umarmen uns. Das Café G. hallt wider von den Schlägen, die ich auf meine Schultern bekomme.
„Mensch, da bist du wieder. Was für Neuigkeiten bringst du?“
Sie wollen wissen, wie es in Frankreich aussieht, in Deutschland, in der ganzen freien Welt, zu der sie nicht gehören und über die sie nur wenig aus der gleichgeschalteten Presse erfahren.
„Hast du uns Bücher mitgebracht, die wir hier nicht lesen dürfen, Zeitungen, die verboten sind?“
Ich muß erzählen, bis mir der Atem ausgeht. Enrique kommt mir zu Hilfe. „Nun laßt ihn doch in Ruhe. Berichtet ihm lieber, wie es bei uns aussieht. Dafür ist er doch hier, damit er den Leuten da draußen sagen kann, was Franco aus dem schönen Spanien gemacht hat.“
„Das Paradies der Schieber“, sagt Viktor lachend.
„Du übertreibst.“
„Nur teilweise. Gemessen am persischen, süd- oder mittelamerikanischen Gepflogenheiten, wo weder moralische Bedenken noch das Volkswohl entscheidend sind, sondern die Macht nichts anderes bedeutet als die Eroberung wirtschaftlicher Positionen, von denen aus man sich selbst ungestört bereichert, ist hier natürlich alles vollkommen normal und vertretbar und sogar wohltuend besser. Wenn du uns aber mit England vergleichst oder mit Deutschland, wo Leute ihres Amtes enthoben werden oder ins Gefängnis wandern, weil sie sich verleiten ließen, von irgendeiner Firma ein Geschenk anzunehmen, dann müßten hier viele Beamte, die meisten Geschäftsleute und Industriellen sofort verhaftet werden, denn die spanische Wirtschaft ist in allen ihren Verästelungen, vom Minister bis zum Bürovorsteher, in erster Linie ein großer Markt, auf dem man Einfluß kauft oder verkauft.
Um es krasser auszudrücken: Heute kannst du Kenntnisse haben, Diplome, Kohlen, Stahl, Apfelsinen oder was du willst, du kannst der Tüchtigste unter den Tüchtigen sein – wenn du keinen Einfluß hast, bleibst du ein armer Mann. Einfluß ist der gesuchteste Artikel unserer Wirtschaft. Deshalb ist er so teuer.“
Enrico unterbricht ihn:
„Wenn Franco Ministerposten umbesetzt oder sonstige Änderungen in der Regierung vornimmt, dann fragen wir uns nicht, wie ihr es in eueren demokratischen Ländern tut, welche politische Tendenz diese Männer vertreten, sondern ob wir sie persönlich kennen oder nicht. Und sollten sie nicht zu unseren direkten Bekannten gehören, dann telefonieren wir so langen unsere Freunde, bis wir einen gefunden haben, der gute Beziehungen zu den neuen Männern hat. Erst dann können wir beruhigt zu Bett gehen. Finden wir niemanden, dann sieht es böse für unsere Geschäfte aus.“

Wirtschaftspartisanen

„Ihr macht Geschäfte?“ frage ich ungläubig. „„ch kenne euch gar nicht wieder. Ihr redet so, als ob ihr all dies gutheißen und tüchtig mitmachen würdet.“
Schallendes Gelächter antwortet mir.
„Und wie wir mitmachen“, ruft José.
„Hast du schon meinen Wagen gesehen, Mercedes 180. Glaubst du, so was bekommt man geschenkt?“
„Nun übertreibe nicht gleich.“ Mit ernster Stimme versucht Enrique den Heiterkeitsausbruch zu dämpfen. „Gutheißen tun wir das natürlich nicht. Das weißt du. Aber leben wollen wir trotzdem. Dafür müssen wir wohl oder übel die Spielregeln annehmen, die man uns vorschreibt. Sonst können wir uns gleich umbringen.
„Ich bin Anwalt“, versucht Fernando zu erläutern, „aber mein Geld verdiene ich nur zu einem geringen Teil in Gerichtssälen. Da ich einen Vetter im Wirtschaftsministerium sitzen habe und einen Schwager im Industrieinstitut, haben mich einige Firmen, die keine besseren Verbindungen haben, zu ihrem Rechtsberater gemacht. Meine Arbeit besteht darin, daß ich meinen Verwandten für Genehmigungen, Einfuhrerleichterungen usw. Schmiergelder überbringe und natürlich selbst für diese Botengänge fürstlich bezahlt werde.“ Mit etwas trauriger Stimme fügte er hinzu: „Du siehst, daß sich viel geändert hat.“
José, der Maler, hat bis jetzt stumm zugehört. Inzwischen ist er bei seinem siebten Cognac angekommen, und bei jedem Glas wird sein Gesicht finsterer.
„Ja“, stößt er mürrisch hervor, „und um dir selber vorzugaukeln, daß du noch ein anständiger Kerl bist, machst du die brillantesten Plädoyers und gehst jeden Tag zur Messe. So gehen wir alle zugrunde: mit einer Hand auf der Bibel, mit der anderen im Dreck. Manolo – noch einen Cognac“, ruft er zur Theke hinüber.
„Hör zu, Gordian.“ Er packt mich am Arm. „Es ist mir ganz egal, was dieses Regime politisch oder sozial aus uns macht. Das ist schon lange nicht mehr wichtig, verstehst du. Aber daß es uns alle dazu verurteilt, moralische Krüppel zu werden – das können wir ihm nicht verzeihen. Oder? … “ Er schaut drohend von einem zum andern. Alle sind ernst geworden. Kein antwortet. José leert sein Glas in einem Zuge.
Man spricht uns von Glauben, von Moral, man mißt die Badehose mit dem Zentimetermaß aus, man pocht auf spanische Ehre und christliches Gewissen und zwingt das Volk damit in die Knie. Und wenn es aufblickt, was sieht es: Lüge, Betrug, Schwindel – und selbst Sittenlosigkeit, wie du sie dir kaum vorstellen kannst.“
„Da hat er recht.“ Paco, der Psychiater scheint plötzlich aufzuwachen. Seine Augen blinzeln maliziös. „In Paris gab es doch diesen Skandal der ‚ Balletts roses‘, du weißt: berühmte Politiker mit jungen Mädchen usw. In Madrid gab es vor nicht sehr langer Zeit einen ähnlichen Skandal. Die Presse schrieb natürlich kein Wort darüber, wie immer, wenn es sich um hohe Herren handelt, aber die betroffenen Väter schrien so laut und machten Miene, die Ehre ihrer Töchter und Söhne mit Messer und Revolver zu rächen, daß die Polizei diskret einschreiten mußte. Es gab natürlich keine Verhaftungen, keine Prozesse. Alles wurde vertuscht. Es gab nur einen Toten, und das auch nur aus Zufall. Als nämlich die Polizei an die Tür des Hauptbetroffenen klopfte, um ihm nahezulegen, das Land für einige Zeit zu verlassen, glaubte er, es sei einer der wutentbrannten Väter, und jagte sich aus Angst eine Kugel durch den Kopf.“
„Es gibt auch lustige Geschichten, die ebenso gut die Situation erklären“, unterbricht Viktor. „Ein hoher Beamter des Wirtschaftsministeriums erhielt zu Weihnachten so viele Geschenke, daß er gezwungen war, neben seinem schon recht schönen Haus eine Villa zu mieten. Er füllte das Parterre und eine Etage mit dem Porzellan, Möbeln, Stoffen, Silberplatten, Goldbestecken und Teppichen, die seine ‚Kunden’ ihm zugeschickt hatten. Die Geschenke an Likören und Weinen waren jedoch zu zahlreich, um von diesen Ehrenmann selbst im Laufe eines Jahres getrunken zu werden. Er verkaufte sie an seinem Weinhändler für 80.000 Peseten (beinahe 6000 DM).“
„Ich finde das gar nicht komisch“, knurrt José.
„Du mußt verstehen“, wendet sich Fernando an mich, José ist uns böse, weil wir dieses Spiel mitmachen. Aber es hat keinen Sinn, der Freiheit über einem Glas Cognac nachzujammern oder unserer Revolte durch geniale Wandmalereien Ausdruck zu geben, wie er es tut. Die romantische Epoche des Widerstandes ist endgültig vorbei. Sie war ergebnislos. Mit Franco können wir nur dann fertig werden, wenn wir uns selbst starke Positionen im Innern seines Systems erobern. Wir tun es. Bewußt. Zynisch.“

Lesen Sie im nächsten Heft:
Kanzel, Tasca und Arena

Back To Top