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Blut ist billiger als Geld

Stern Heft 15,  9. April 1960

Für den Westen mag es unbequem sein, zuzugeben, daß es ein menschliches und politisches Verbrechen ist, jene materiell und moralisch zu unterstützen, die auf Sizilien ausbeuterisch Armut schaffen und sich dabei unseres Namens bedienen. Menschlich, weil die Not mordet. Politisch, weil das Elend zum Kommunismus treibt.

Die beiden Väter erhoben ihre Gläser. „Figli Maschi“, sagten sie, „männliche Erben“, und ihre Augen bohrten sich ineinander wie zu einem stummen Schwur. Die Mütter küßten sich so herzhaft, daß die Tränen der Freude zwischen ihren Wangen zu kleinen Bächen zerschmolzen. Es war der schönste Tag ihres Lebens. Dort, unter der der Madonna, zwischen der Königskrone und einer Alpenlandschaft saßen ihre Kinder, Luciana und Mario, zitternd vor Glück und Erregung.
Sie durften heiraten. Es war soeben beschlossen worden, und auch der Tag stand schon fest: der 6. Mai.
Während zweier Jahre hatten sie ihrer Liebe nur durch Blicke und kurze Worte Ausdruck geben können, weil sie nie allein sein durften; aber nun, trunken von Wein und Erwartung, hatte Luciana plötzlich einen Gedanken, der mit jedem Schluck verlockender und zwingender wurde. Sie wollte endlich wissen, wie ein Kuß ist. Sie wollte jetzt schon, acht Wochen vor dem Fest, ein ganz klein wenig Frau werden.
Übermütig springt sie auf. „Komm Mario, ich zeige dir unsere Kühe und Schafe.“
Mario schaut fragend auf seinen Vater, der die Augen von Lucianas Vater sucht; denn nur er kann entscheiden, weil die Ehre seiner Tochter seine Ehre ist. Und wieder bohren sich die Blicke der beiden Männer ineinander zum stummen Dialog der Ehre. Hier gibt es keine Worte. Die Ehre ist wie das Herz, das nicht fragt, wann es schlagen soll.
Auch Lucianas Herz schlägt heute in einem eigenwilligen Rhythmus. Sie ergreift Marios Hand und zieht den sich sträubenden Verlobten aus dem Zimmer. Keiner widerspricht.
Als sie im Stall angekommen sind, geht Luciana ernst auf Mario zu und bleibt mit erhobenem Gesicht vor ihm stehen. Sie spürt endlich den Kuß, von dem sie seit Jahren geträumt hat. Nun kann sie wieder ins Haus zurück. Aber Mario hält sie fest. Er hat nicht nur von einem Kuß geträumt. Er wirft sie ins Stroh. „Wir sind ja fest verlobt“, flüstert er. – „Mario, nein, ich will im weißen Brautkleid zur Trauung gehen. Ich würde nie wagen, weiß zu tragen … Es sind ja nur noch acht Wochen.“ Er nimmt ihren Kopf in seine Arme. „Acht lange Wochen.“
Im Haus ist kein Wort mehr gefallen. Nach zwanzig Minuten verläßt Lucianas Vater das Zimmer. Er ruft nicht. Er geht suchend über den Hof. In der Stalltür begegnet er einem Knecht, der scheu zur Seite blickt, ohne ihn zu grüßen. Im Stroh findet er seine Tochter, ihr Kopf ruht auf Marios Arm. Die Kinder sind eingeschlafen. Er weckt sie nicht. Auf dem Hof bleibt er einen Augenblick stehen und schaut dem Knecht nach, der langsam zum Nachbarhaus geht. Er weiß, was er zu tun hat.
Als die zwei Schüsse fallen, fahren die Mütter zusammen. Sie bekreuzigen sich und fangen lautlos an zu weinen. Marios Vater geht zur Tür. Auf dem Hof begegnet er Lucianas Vater, der ihm das Jagdgewehr überreicht: „Sie sind im Stroh,“, sagt er nur, „ich gehe zur Polizei.“
Die Leichen der beiden Kinder wurden getrennt beigesetzt. Der Mörder erhielt zehn Jahre Gefängnis. Für „Verbrechen der Ehre“ gibt es in Sizilien immer mildernde Umstände.
Mildernde Umstände wurden auch Vincenzina d’Uso zugestanden, der hübschen 21jährigen Brünetten aus Catania, als sie resolut ihre besudelte Ehre wieder reinwusch. Sie war mit Enzo d’Agustino, einem Chauffeur, verlobt. Enzo hatte sie seiner Familie vorgestellt, aber wenig Verständnis für seine Wahl gefunden, da Vincenzinas Eltern keine zufriedenstellende Mitgift aufbringen konnten, und auch nicht genügend Geld da war, die Hochzeit standesgemäß zu feiern. Die beiden waren aber zu verliebt, um sich zu trennen und rannten ohne Einverständnis der Familien davon.
Das war der Augenblick, an dem Vincenzinas Ehre zur Sprache kommen mußte. Sechs Jahre vorher, gestand sie unter Tränen, als sie 15 Jahre alt war, hatte es einen Ernesto gegeben. Aber Ernesto war längst verheiratet. Obwohl er noch nicht der angetraute Mann Vincenzinas war, konnte Enzo dieses Geständnis nicht hinnehmen. Gekränkt in seiner Ehre führte er seine Ex-Verlobte ihrem Vater wieder zu, der nun seinerseits so tief in seiner Ehre getroffen war, daß er Vincenzina davonjagte und die Tür seines Hauses mit schwarzem Stoff verkleidete.
Von jetzt ab wußte Vincenzina, was sie zu tun hatte. Sie kaufte sich ein Schlachtermesser, wickelte es in Zeitungspapier und irrte rachsüchtig durch die Straßen. An einer Bushaltestelle fand sie endlich Ernesto, ihren ersten Liebhaber. „Du bist schöner denn je“, hatte er gerade noch Zeit zu sagen, dann brach er mit tiefen Wunden an Brust und Leib zusammen.
Mit viel Mühe rettete man sein Leben, und in Anbetracht dessen, daß eine Frau die Hüterin ihrer Ehre ein muß, verurteilte der Richter Vincenzina nur zu drei Jahren Haft.
Jetzt konnte ihr Vater getrost die Trauerfahne wieder einziehen. Auch für Enzo hatte Vicenzina ihre volle Ehre wiedererlangt. In der Kapelle des Gefängnisses wurden sie feierlich getraut.
Nur Blut kann Ehre reinwaschen – oder Geld: doch im Armenhaus Sizilien ist Blut billiger.
Es ist grotesk zu sehen, wie großmütig die Hungernden damit umgehen, um ihre Würde vor der Welt zu beweisen. Aber nur unter ihresgleichen zahlen die Armen mit Blut. Sobald die Moneten klingen, wird die sizilianische Stimme des Blutes zum unhörbaren Geflüster.
Ein Herr, der sein Dienstmädchen verführt – was gang und gäbe ist – wird nie erstochen oder kastriert aufgefunden, weil er dem Mädchen eine Mitgift gibt, die deren Vater taub macht, ihre Mutter stumm und den zukünftigen Mann blind. Er, der seiner Schwester den Leib aufschneiden würde, wenn sie auch nur annähernd ihr Jungfräulichkeit mit einem Mann ihres Standes verloren hätte, übernimmt seine Frau unbesehen aus zweiter Hand, weil sie beschenkt aus reicher Hand kommt.
Ich habe keinen Reichen getroffen, es gibt, glaube ich, keinen wohlhabenden Mann in Sizilien, der nicht eine oder mehrere Geliebte hat, die ja die Frauen oder wenigsten die Töchter und Schwestern anderer Sizilianer sein müssen. Und doch fürchtet keiner um sein Leben.
Einen dieser sizilianischen Don Juans traf ich doch eines Tages in recht aufgelöstem Zustand an der Bar meines Hotels. Ein kleiner Baron mit feinem Schnurrbart, der geschworen zu haben schien, dem Ideal der sizilianischen Männlichkeit voll und ganz zu leben. Er hatte offiziell eine Frau und vier Geliebte. Diesmal sah es so aus, als sei ein eifersüchtiger Mann mit dem Messer hinter ihm her, und ich fragte nach seinem Kummer.
„Gleiche Schwierigkeiten an zwei Fronten“, erklärte er niedergeschlagen, „an der verheirateten Front und an der unverheirateten Front.“
„Was, deine Frau weiß etwas?“
„Natürlich weiß sie, wie könnte sie sonst stolz auf mich sein. Aber das ist nicht das Problem“, setzte er mit soviel Verachtung für meine psychologische Begabung hinzu, daß ich am liebsten nie gefragt hätte. „Die Schwierigkeiten liegen bei Maria, das ist eine verheiratete Freundin, und bei Rosa, das ist die unverheiratete Front. – Beide haben sich in mich verliebt.“
„Dann ist ja alles in bester Ordnung.“
Jetzt schickt sein Blick mich endgültig unter die unheilbaren Idioten. Nur um sich selber noch zu bedauern, solch einen Gesprächspartner zu haben, fährt er fort: „Im Gegenteil, sobald diese Weiber sich verlieben, wollen ihre Männer und Eltern nichts mehr von uns wissen. Körperchen verkaufen, schön, das geht noch, aber Vergnügen haben, da hört der Spaß auf. Dann wird es Sünde, Diebstahl, und ich weiß nicht was. Dann ist Feierabend, und man sucht nach einem anderen Reichen oder wartet geduldig, bis er kommt!“
„Das kann ich dir nicht glauben, Bruno.“
Er leert seinen Whisky in einem Zug, um überhaupt noch Courage zu haben, mit mir zu sprechen.
„Ihr Zeitungsfritzen frühstückt Statistiken und kackt Lügen. Aber wenn euch mal einer die Wahrheit sagt, bleibt euch die Spucke weg. Verkleide doch deine Reporterkollegin als arme Frau und schicke sie zur Beichte. Laß sie das verführte Kind spielen. ‚Hast du aus Not gehandelt oder aus Lust’, wird man sie fragen. Dann sollst du mal sehen, wie viele ‚Ave Marias sie aufgebrummt kriegt, wenn sie schüchtern sagt: ‚Aus Lust’.“
„Und wenn sie ‚Not’ sagt?“ frage ich.
„Dann ist sie eine Märtyrerin der Ehre, du Idiot.
„Das heißt?“
„Sie opfert ihre Ehre auf dem Altar der Not.“
„Jetzt brauche auch ich ein Glas Whisky.“
„Logisch?“ fragt Bruno.
„Logisch vielleicht, aber doch ein wenig verwirrend. Ich hab’ ja schon lange begriffen, daß eure berühmte Ehre ein recht dehnbarer Begriff ist, aber wenn ich die Lokalchroniken eurer Zeitungen lese, wo die Verbrechen der Ehre sich häufen wie bei uns die Autounfälle, dann kommen mir immer wieder Zweifel. Sizilien erscheint mir dann wie ein gieriger Schwamm, der sich mit Blut ernährt. Aber nur mit dem Blut der Armen. Schon die kleinen Bürger scheinen in Sicherheit vor dem Gespenst der Ehre.“
„Das ist es ja gerade: Die Ehre ist der Heldenfriedhof der Armen“, schreit er. „Eure legendensuchenden Schreiberlinge haben euch die Ohren vollgepaukt mit der sizilianischen Ehrauffassung, und tausend verstümmelte Leichen scheinen beredte Zeugen für die wilde Würde unserer Rasse. Literatur, mein Lieber, Literatur, die wir gerne unterstützen, weil sie Touristen anzieht. Wenn du aber genau hinsiehst, merkst du, daß unsere Ehre kein ethischer Wert ist mit romantisch-heldischem Glanz im Nibelungenstil altpreußischer Junker. Sie ist nichts anderes als ein Kapital. Das einzige, erbärmliche Kapital der Armen. Unter ihresgleichen verteidigen sie es mit Dolch und Gewehr wie eine Schafherde oder ein Stück Acker; deshalb gibt es so viele Tote, denn es darf nicht genommen, das heißt, gestohlen werden. Es muß angelegt werden und Zinsen tragen wie jedes Kapital. Und wenn ein Armer die Ehre nimmt, ein Dieb, der nicht bezahlen kann, dann muß sein Blut sie waschen bis sie wieder glänzt wie Gold. Und je mehr Blut fließt, umso höher werden die Preise. – Schau nicht so dumm“, schreit er mich an, „was sind schon drei oder sechs Liter Blut, wenn man sich vermehrt wie die Kaninchen? Die paar Liter sind in neun Monaten sowieso wieder da; aber die Ehre, dieser Scheck auf die Zukunft, darf nicht verlorengehen, weil er nicht ersetzt werden kann. Der muß kassiert werden.“


Wer als Kind überlebt, muß ich mit dem Messer in der Hand verteidigen

Eine kurze Kopfbewegung – und der Barmann füllt wieder unsere Gläser.
„Aber du hast natürlich Ehre?“ frage ich mit einem gewollten Unterton von Ironie.
„Natürlich“, sagt er, ohne mit der Wimper zu zucken, „ich bin ein Galantuomo, ein Ehrenmann: Wie sollte ich mich sonst verkaufen können.“ Er lacht aus vollem Halse. „Aber das geht natürlich in deinen nordischen Querkopf schwer hinein, weil ihr unter Ehre manchmal noch seelisch gesteuerte Prinzipienreiterei versteht, obwohl ihr Heuchler auch schon nach unserem Motto lebt: Ehre = Ansehen = soziale Stellung = Geld. Ist es dir nicht aufgefallen, daß wir in unserem Milieu unsere eigenen Damen freimütig herumreichen, während die weniger Bemittelten Jungfräulichkeit und Treue zu blutrünstigen Götzen erhoben haben? Warum dieser Unterschied, wo wir doch alle Sizilianer sind?“
Da er nicht fortfährt, muß die Frage nicht nur rhetorisch gemeint sein. „Ich habe begriffen“, sage ich deshalb schnell. „Weil ihr Geld habt, und eure Töchter deshalb immer unter die Haube bringt.“
„Quatsch“, widerspricht er, „weil Jungfräulichkeit und Treue der klägliche Ersatz für soziales Ansehen sind.“
„Das ist doch ungefähr dasselbe.“
„Na, wenn du willst“, meint er. „Am schlimmsten ist natürlich der kleine Mittelstand dran“, fährt er nachdenklich fort, „die haben im Gegensatz zu den Armen ein mehr oder weniger festes Einkommen. Das lädt zum Rechnen ein, zum genauen Einteilen. Sie zählen also nicht nur das Geld, sondern auch ihre Kinder und fabrizieren nur das ernährbare Quantum. Das verteuert aber das Blut so ungeheuerlich, daß der Mittelstand keins mehr abgeben kann. Die Verbrechen der Ehre werden damit zu einem Luxus, den nur die Armen sich leisten können. Und da die Halbarmen weder Blut noch Geld haben, sind sie am leichtesten zu kaufen.“

Er ist nicht betrunken, daß sehe ich, er ist nur so unglücklich, weil zwei seiner Geliebten sich in ihn verliebt haben, daß er alles zum Teufel wünscht, was irgendwie schuld an dieser Katastrophe ist – besonders die sizilianische Gesellschaftsordnung.
„Du hast es vielleicht selbst schon gemerkt, und wenn nicht, muß ich es dir sagen“, fährt er fort, „diese Insel der Träume beherbergt das verlogenste, korrupteste, gemeinste Volk, das ich kenne – widersprich nicht, ich muß es wissen, ich gehöre selbst dazu.“
„Schön gesprochen, Bruno, aber das ist auch alles.“
„Ihr ewig statistik-hungrigen Nachrichtenjodler. Als ob ich dir nicht schon genug Beweise gegeben hätte. Du willst noch mehr? Ich bin der erste und nicht der Dümmste. Ich habe eine schöne Stellung in einem Ministerium, die natürlich nur fiktiv ist, und stecke als Gehalt Spesen, Reisen usw., runde 300 000 Lire (2 000 DM) im Monat ein. Einfache Kombination: Ich sage meinen Landarbeitern, wen sie wählen müssen, und der Gewählte zeigt sich dann erkenntlich. Mein Freund L. macht es noch besser: Vor den Wahlen läßt er immer seinen gefährlichsten Gegner von der Mafia umlegen. Dafür erhält die Mafia seiner Provinz das Monopol der Märkte und Obstpreise und darf ungestört ihren anderen kleinen und großen Geschäften nachgehen.
„Kalter Kaffee, Bruno, das habe ich schon gehört.“
„Aber daß ich 300 000 Lire kassiere, wußtest du noch nicht.“
„Auch das.“
„Ja, wenn du Exklusiv-Berichte haben willst, mußt du nicht nach Sizilien kommen. Hier wissen alle alles. Und doch geht es weiter. Keiner kann schreien, weil ihm sonst der eigene Dreck in den Hals läuft. Die öffentlichen Gelder werden verschwendet, um die Wahlkundschaft zu unterhalten. Die Ministerien können wirtschaften, wie sie wollen. Wenn sie ‚Unterstützung’ oder ‚Wohlfahrt’ hinter eine Ausgabe schreiben, brauchen sie keine Belege. So gehen siebzig Millionen an Herrn X und dreißig Millionen an Herrn Y. Unter dem schönen Titel ‚Tourismus’ kann man noch besser den Rahm abschöpfen. Millionen verschwinden in der Produktion von Kulturfilmen, die nie gedreht werden. Für einige Amateurfotos erhält man tausend Mark. Ich selber schreibe hin und wieder kleine Artikel für den Tourismus, die selten veröffentlicht werden, mir aber siebenhundert Mark pro Stück einbringen. Schau nicht so ungläubig. Ihr deutschen Journalisten seid eben unterbezahlt.“

Die Liebe der Eltern, die sich erfinderisch bemüht, dieses Kind zu kleiden und aus verrosteten Röhren ein Bett zu basteln, vermag es jedoch nie, Sie aus dem tiefen Elend zu reißen, in der sie geboren wurden

 

 

 

 

 

 

 

 

Bruno lacht zufrieden, er hat den Eindruck, daß er nun endlich etwas Gefunden hat, was ich noch nicht weiß.
„Unter Ehrenmännern bezahlt man gut“, erklärt er weiter, „wenn du ein kleiner Knirps bist, bekommst du natürlich viel weniger. Mein Rechtsanwalt, ein armer Kerl, wird in einem Ministerium als Bahnwärter geführt, in einem anderen als Liftboy. Das macht immerhin ein paar hundert Mark im Monat. Mein Vetter – du wirst es nicht glauben – fungiert als Koch der Irrenanstalt. Er hat natürlich nie eine Küche gesehen, ist dafür aber ein umso besserer Aktivist unserer Partei. Und noch etwas, was du nicht weißt: Meine Nichte ist Sekretärin, ihr Gehalt ist gering. Sie erhält jedoch zusätzlich 1 000 Lire (6,70 Mark) pro Stunde Reisekostenvergütung, weil sie – bitte lach nicht – den ganzen Tag zwischen ihrem Büro und dem ihres Chefs hin- und hergeht. Unsere Aufsichtsratsmitglieder lassen sich jede Sitzung dreifach bezahlen: einen Tag zur Vorbereitung, einen Tag für die Sitzung und einen Tag, um über die besprochenen Dinge nachzudenken. Wenn es um Geld geht, sind wir Virtuosen in der Kunst der Multiplikation.“

Bruno springt auf. Eine hübsche blonde Frau ist in der Tür stehengeblieben und guckt sich suchend um. Sofort wird sie von einigen Männern umringt, die sie an einen Tisch begleiten. Auch Bruno mischt sich ein, grüßt, spricht einige Worte und kommt an unseren Tisch zurück.
„Die offizielle Hotel-Hure“, erklärt er. „Große Klasse. Mailänderin. Kenne sie gut. Früher Catania, Taormina. In jedem Hotel von Ruf findest du hier zwei bis drei Damen dieser Art. Können natürlich nur mit offizieller Genehmigung der Direktion arbeiten. Gute Einrichtung. Macht das Reisen verflucht angenehm.“
„Gibt es denn gar nichts Normales bei euch“, frage ich, fast erschöpft.
„Oh doch“, antwortet er lächelnd. „Die Landreform. Unsere große Revolution der Land- und Menschwürde. Irgend jemand hatte laut gebrüllt, daß Sizilien von Leuten wie ich ausgebeutet würde, von Großgrundbesitzern und Feudalherren, die Tausende von Morgen hatten. Wir waren meistens verschuldet, aber das nur nebenbei. Die Landreform hat uns nämlich wieder flottgemacht. Es wurde also beschlossen, daß alle Besitzungen, die 200 Hektar übersteigen, aufgeteilt würden. Die großen Familien teilten natürlich das beste Land unter sich, ihren Kindern und Geschwistern auf. Was dann noch eventuell an gutem Land übrig blieb, verkauften sie an reiche Spekulanten in der Stadt. Und was dann noch eventuell übrigblieb, das heißt die felsigen, hügeligen und unfruchtbaren Landstreifen ohne Wasser und Mist, wurden gegen gute Bezahlung der Landreform zu Verfügung gestellt.

Landarbeiter kommen vom Feld zurück. Männer, Frauen, Kinder, deren Tageslohn zwischen drei und sechs Mark liegt. Sie gehen in Gruppen, weil Überfälle auf Einzelgänger nicht selten sind. Aus dem selben Grunde wohnen sie nicht auf dem Land, sondern in den Städten

„Da wir von solcher Reform keine Ahnung hatten und natürlich nicht wollten, daß eine neue soziale Klasse von selbstständigen Kleinbauern ins Leben gerufen wurde – was logischerweise die Preise der Landarbeiter gesteigert hätte und auch politisch bedenklich gewesen wäre, kopierten wir die Erfahrungen aus der Po-Ebene, wo drei Hektar fruchtbarer Erde ihren Mann gut ernähren. Wir gaben also unseren landhungrigen Gelegenheitsknechten zwei bis vier Hektar steiniger Erde, von der natürlich keiner leben kann, und zwingen sie somit, sich nach wie vor für billiges Geld auszudingen. Gar nicht dumm, was? Es gibt natürlich ein paar Ausnahmen, aber die sind nicht der Rede wert. Da das Geld für die Landreform aus Italien kommt, wollten wir natürlich den kontinentalen Besserwissern zeigen, was wir können. Wir bauten nagelneue Dörfer und Siedlungen für unsere Kleinbauern. Du hast sie sicher auf deinen Rundfahrten gesehen. Sechzig Prozent der Häuser stehen heute noch leer. Viele Dörfer sind nie bezogen worden. Wir bauten zwar prachtvolle Kirchen, deren Glocken nie läuten werden, vergaßen aber Wasser, Licht, Kanalisation und alles, was man zum Leben braucht. Und im übrigen können die neuen Grundbesitzer ihren alten Arbeitsplatz nicht verlassen, weil sie ihr eigenes Land nicht ernährt.“
„Ich habe sie gesehen, die Gespensterdörfer der Landreform, und mit den neuen Kleinbauern gesprochen. Es ist schlimmer, als du sagst.“
„Du kannst nicht verlangen, daß ich zu schlecht von der Landreform spreche.“ Er lacht. „Du mußt nicht vergessen, daß ich Großbauer bin. – Schönes Sizilien – was?“ Er dreht sich um und macht eine theatralische Handbewegung, die die ganze Bar umfaßt. „Schau sie dir an, da sitzen sie, die Hauptverantwortlichen. Du hast dir das richtige Hotel ausgesucht, das Hotel Delle Palme, Zentralmarkt der sizilianischen Ehre. Ich brauche nur „Onorevole“ (Ehrenwerter, Titel der Abgeordneten) zu rufen, und dreißig Gesichter werden sich uns mit breitem Lächeln anbieten.“
„Onorevole“, ruft er wirklich. Ich zähle vierundzwanzig Köpfe, die sich uns zuwenden. Bruno hat ein wenig übertrieben. Er schaut auf die Uhr.
„Zweiundzwanzig Uhr dreißig“, ruft er erstaunt, „so spät und die Bombe ist immer noch nicht geplatzt. Entschuldige mich, heute nacht habe ich noch viel zu tun.“
Er läßt sich vom Schemel gleiten und gibt dem Barmann durch ein Zeichen zu verstehen, daß er von mir kein Geld annehmen darf.
„Welche Bombe“, will ich noch wissen.
„Du weißt, daß unsere regionale Regierung in den letzten Zügen liegt. Heute nacht soll ihr auf echt sizilianische Art der Todesstoß versetzt werden. Es ist der 14. Februar. Morgen wird mein Geschwätz dir weniger dumm vorkommen. Ciao, ciao, Gordian.“
Er ist schon an einem Tisch, wo heftig diskutiert wird und kümmert sich nicht mehr um mich. Ich gehe zum Portier und bitte um meinen Schlüssel.
„Sie gehen schon schlafen?“ fragt er, und ich haber den Eindruck, daß er ziemlich nervös ist. „Sie sollten mal ins Mirage gehen, die haben eine neue Show. Palermo bei Nacht“, sagt er mit einem versprechenden Lächeln.

Ich sage, daß ich müde bin und bitte nochmals um meinen Schlüssel.
„Der muß oben sein“, antwortet er schnell, „in Ihrem Fach ist er nicht.“ Ich finde mein Zimmer verschlossen. Auch der Schlüssel steckt nicht, aber unter der Tür sehe ich Licht. Als ich wieder umkehren will, höre ich wie mein Telefon klingelt. Ich höre auch deutlich, wie die Badezimmertür aufgerissen wird. Einige Schritte und das Telefon wird abgehoben. „Ja, ja“, sagt eine Männerstimme, „sofort.“ Das Licht geht aus. Es wird still. Ich klopfe, rufe. Keine Antwort. Die Nebentüren werden leise aufgemacht. Köpfe erscheinen und verschwinden wieder. Mehrere Telefone klingeln zur gleichen Zeit. Mein Zimmer hat die Nummer 119. Als ich an Zimmer 128 vorbeigehe, steht ein beschnurrbarteter Herr im Pyjama in der Tür und starrt mich verstört an.
„Sie müssen sich im Zimmer geirrt haben“, sagt der Portier höflich, als ich ihn um eine Erklärung bitte. „Hier ist übrigens Ihr Schlüssel, er war noch beim Zimmermädchen.“
Ich untersuche mein Zimmer. Es ist alles in Ordnung. Nur auf dem Badeteppich sehe ich den Abdruck eines Schuhs, der viel zu groß für meinen Fuß ist.

Als ich am nächsten Morgen die Zeitungen aufschlage, ist die Bombe geplatzt, und zwar auf meiner Etage – im Zimmer 128. Der beschnurrbartete Herr im Pyjama, der mich angestarrt hatte, als sei ich ein Gespenst, hat die Regierung gestürzt, und zwar auf echt sizilianische Art, wie Bruno vorausgesagt hatte.
Ich stelle die Hauptdarsteller vor:
– Der beschnurrbartete Herr ist der „Onorevole“Santalco, christlich-demokratischer Abgeordneter im sizilianischen Parlament.
– Ein mysteriöser Mittelsmann.
– Der „Onorevole“ Corrao, Minister der sizilianischen Regierung.
Bis zum Oktober 1958 regierten die christlichen Demokraten ungestört in Sizilien. Dann begingen sie einen schweren Fehler, der sie die Macht kosten sollte: Sie stießen Signore Milazzo, den populärsten sizilianischen Politiker aus ihren Reihen aus. Milazzo organisierte daraufhin sofort eine eigene Partei und brachte es fertig, selber an die Macht zu kommen. Er stürzte die christlich-demokratische Regierung mit Unterstützung der Kommunisten und Sozialisten. Seine Mehrheit war schwach, sie bestand nur aus drei Stimmen, aber es war die Mehrheit.
Nun wird Italien, das Mutterland, seit 1948 von der christlich-demokratischen Partei regiert. Die konnte es nicht zulassen, daß Sizilien, eine autonome Provinz, ihrer Kontrolle entging und von einer Art Volksfrontregierung geführt wurde. Gerade jetzt, kurz vor den Gemeindewahlen im April, wollten die christliche Demokraten die Macht in Sizilien wieder übernehmen. Denn man braucht hier die Macht-, Zwangs-, Geldmittel der Verwaltung, wenn man eine Wahl gewinnen will. Die christlichen Demokraten benötigten also drei Stimmen, koste es, was es wolle. Eine halbe Milliarde Lire, behaupten die Kenner des politischen Pokerns in Sizilien.
Kurz entschlossen warben sie einfach drei Minister ab. Dem wichtigsten davon, dem Finanzminister, Baron Majorana, versprachen sie als Gegenleistung den Präsidentenposten. Er nimmt natürlich an, bittet aber um absolute Diskretion.
Als er am nächsten Tag in Palermo ins Kaffee Caflisch tritt, begrüßt ihn der Kellner: „Ich küsse Ihre Hände – Herr Präsident“, und Majorana wir rot bis hinter die Ohren.

Eintreiben muss man die Stimmen auf jede Art. Die Büros der politischen Parteien sind Spielsäle, in denen Beschäftigungslose und Kinder die Zeit totschlagen. Die Wahlen sind das große Fest der Armen. Endlich erinnert man sich ihrer. Man kauft ihre Stimmen mit Spaghetti, Brot und Kleidern. Unsichere Klienten erhalten einen neuen Schuh vor der Wahl, den zweiten gibt es, wenn  sie richtig gewählt haben

AustreibenEintreiben darf man nur den Teufel, der die meisten Sizilianer mehr beschäftigt als Gott. Sie glauben an den bösen Blick, an Geister, Dämonen und magische Kräfte, die von Menschen gesteuert werden und jedes Schicksal bestimmen. Die Sizilianer gehen zum Teufelsaustreiber, wie die Amerikaner zu Psychoanalytiker. In den Dörfern Siziliens gibt es bei weitem mehr Hexen und Magier als Ärzte und Priester muss man die Stimmen auf jede Art. Die Büros der politischen Parteien sind Spielsäle, in denen Beschäftigungslose und Kinder die Zeit totschlagen. Die Wahlen sind das große Fest der Armen. Endlich erinnert man sich ihrer. Man kauft ihre Stimmen mit Spaghetti, Brot und Kleidern. Unsichere Klienten erhalten einen neuen Schuh vor der Wahl, den zweiten gibt es, wenn  sie richtig gewählt haben

Vertreiben will man die Kommunisten, indem man jeden, der sich zur Partei bekennt, die Arbeit erschwert und Gottes Segen verwehrt. Deshalb sehen die Parteibüros der kommunistischen Partei aus wie traurig Abstellplätze alter Männer, auf die keine Arbeit mehr wartet, und die in ihrer Armut vergessen haben, daß es Gott gibt

 

Auch die sizilianische Regierung ist mittlerweile von den geheimen Verhandlungen ihrer drei Minister mit der Opposition unterrichtet und versucht eiligst die abtrünnigen Schafe wieder einzufangen. Regierungsautos werden durch Sizilien gehetzt, um sie in ihren Schlupflöchern aufzustöbern. „Warum verläßt du uns? Was willst du den haben?“ fragt man Barone, einen der drei Abtrünnigen. Er fängt an zu weinen. „Ihr habt mich immer schlecht behandelt“, jammert er, „ihr habt mir nicht einmal einen neuen Wagen gegeben, sondern eine alte Kiste, die unvereinbar ist mit meiner Würde.“
Er ist nicht mehr einzufangen. Auch die anderen zwei sind verloren.
Aber die Regierung steckt nicht zurück. Sie holt zum Gegenschlag aus. Drei Männer sind weg, drei neue müssen ran. Koste es, was es wolle.
Man studiert die Namen der gegnerischen christlichen Demokraten, um zu sehen, wer am billigsten ist. Der Finger fällt auf meinen schnurrbärtigen Zimmernachbarn, auf den „Onorevole“ Santalco. Mann nennt ihn „Herr Zehnprozent“, weil man ihm nachsagt, Prozente einzustecken, Bestechungsgelder anzunehmen, mit gefälschten Dokumenten zu handeln und Meister im Unterschlagen zu sein. Er scheint der geeignete Mann.
Als er im Hotel Delle Palme von einem mysteriösen Unbekannten angesprochen wird, der ihm verlockende Angebote der Regierung übermittelt, Angebote für ihn und für zwei seiner Kollegen, läuft er schnell zum Sekretär seiner Christlich-Demokratischen Partei . Hier wird sofort entschieden, den Köder der Regierung in eine tödliche Falle zu verwandeln. Er, der schnurrbärtige Santalco soll 70 Millionen (470 000 DM) für sich und 30 Millionen (200 000 DM) für seine beiden Kollegen fordern, und zwar so, daß man die versuchte Bestechung beweisen kann. Den Skandal kann die Regierung nicht überleben.
Dem mysteriösen Mittelsmann sagt Santalco also: „Ja, einverstanden, aber ich will direkt mit dem Chef der Regierung sprechen. Mit einem unbekannten Dritten will ich nichts mehr zu tun haben. Die Herren sollen ihre Gesichter zeigen.“
Schnell wird von den christlichen Demokraten ein Bandgerät in einem Wagen untergebracht. auch ein Hotelzimmer wird zum Abhören vorbereitet. Aber Milazzo, der Regierungschef, beißt nicht an. Statt seiner schaltet sich nun der Minister Corrao, der Vertrauensmann Milazzos, ein. Er verspricht, alles selber in die Hand zu nehmen. Rendezvous am 14. Februar im Zimmer 128 –
Santalco verständigt seine Freunde: „Alles ist fertig, aber laßt mich nicht allein.“ Sie hatten schon den Mittelsmann überwachen lassen, jetzt wird auch das Hotel Delle Palme diskret besetzt, besonders die erste Etage. Überall wimmelt es von Geheimen und Leibwächtern der Mafia. Zwei verstecken sich im Badezimmer des Herrn Schnurrbart. Freunde und eingeweihte Abgeordnete warten aufgeregt in der Bar.

Um 22.00 Uhr ist Santalco in seinem Zimmer. Er liegt auf dem Bett, im Pyjama, liest, fiebernd nervös. Um 23.30 Uhr klopft es an die Tür. Das ist Minister Corao, denkt er, aber eine Dame tritt ein, schlank, ernst, etwas steif wie ein Lehrerin. „Entschuldigen Sie …“, beginnt sie. – „Ich muß mich entschuldigen“, antwortet Santalco, indem er aufspringt, „ich erwartete Sie nicht, ich bin im Pyjama.“ Die Dame erklärt: „Man bittet Sie nach oben zu kommen, um ungestört sprechen zu können.“
Santalco begreift schnell. „Ich kann nicht“, antwortet er, verstehen Sie mich recht, ich bin nicht angezogen.“
Wenige Minuten später läßt der Minister bestellen, daß er selber herunterkommen werde. – Es ist etwas nach Mitternacht, als er endlich in die Falle geht. Er ist elegant gekleidet und gut gestimmt wie immer. „In diesem Aufzug empfängst du mich, im Pyjama“, ruft er vergnügt, zieht die Dokumente hervor und unterschreibt sie vor den Augen Santalcos. Als er das Zimmer verläßt, scherzt er wieder: „70 Millionen für dich, 30 für deine beiden Freunde. Ich glaube wirklich, daß du die christlichen Demokraten dafür zum Teufel jagst.“
„Seit sechs oder sieben Tagen bin ich ernstlich besorgt um das Schicksal unserer Insel …“, beginnt er seine Rede und erzählt, wie die Regierung versucht hat, ihn zu bestechen.
Skandal. Minister Corrao tritt zurück. Die Regierung muß gehen. Der Weg ist frei für die neue rechtsgerichtet Koalition unter christlich-demokratischer Führung.
„Pech gehabt“, sagt Corrao gelassen. „So was macht man auch nicht schriftlich“, entrüstet sich Majorana, der neue Chef der neuen Regierung.

Im nächsten Heft:

Die Mafia regiert Sizilien

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