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Bauernmord mit Wirtschaftshilfe

Stern, Heft 7,  18. Februar 1962

[Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung geläufig.]

Drei Milliarden Mark von den USA. Zweihundert Millionen von der Bundesrepublik. Hundert von Frankreich. Das ist Wirtschaftshilfe für Brasilien. Sie soll sozialen Wohlstand schaffen und das Land dem Westen erhalten. Die Schlacht um Lateinamerika hat begonnen. Viel Geld gegen Castro und seinen großen Verbündeten: das Elend. Wer wird siegen? Kenner behaupten, die Wahl heiße nicht mehr Kennedy oder Castro, sondern Kommunismus oder Fidelismus.

Wirtschaftshilfe kommt auch in solche Finger und bleibt daran kleben. Es ist die Hand eines Großgrundbesitzers, eine der zehntausend Hände, in denen das Schicksal von Millionen Bauern liegt. Wir haben gesehen, wie Wirtschaftshilfe in solchen Händen zur Mordwaffe werden kann. Es geschah in Cabo, im Nordosten Brasiliens: Die französische Regierung hatte dort einer Gesellschaft 48 Millionen Mark zur Verfügung gestellt, um eine Fabrik für synthetischen Gummi zu bauen. Obwohl nur zwölf Hektar Industriegelände benötigt wurden, kaufte die Gesellschaft 4500 Hektar Land und verjagte die Bauern. Um mit dem Land zu spekulieren, brauchten sie unbesiedelten Boden. Fünftausend Menschen sollten ihr Heim verlassen. Ohne Entschädigung. Ohne Hoffnung auf Arbeit. Sie sollten verhungern

Fluß der Einigkeit nennt man den Rio San Francisco, der Brasilien von Süden nach Norden auf 2000 Kilometer durchfließt. In einem Land das 34mal so groß ist wie die Bundesrepublik und wenige Straßen hat, ist er das große Band, das Symbol der Einheit. Er ist auch die Straße der Flüchtlinge, die stromaufwärts ziehen, um in reicheren Süden Arbeit zu finden Fluß der Einigkeit nennt man den Rio San Francisco, der Brasilien von Süden nach Norden auf 2000 Kilometer durchfließt. In einem Land das 34mal so groß ist wie die Bundesrepublik und wenige Straßen hat, ist er das große Band, das Symbol der Einheit. Er ist auch die Straße der Flüchtlinge, die stromaufwärts ziehen, um in reicheren Süden Arbeit zu finden Fluß der Einigkeit nennt man den Rio San Francisco, der Brasilien von Süden nach Norden auf 2000 Kilometer durchfließt. In einem Land das 34mal so groß ist wie die Bundesrepublik und wenige Straßen hat, ist er das große Band, das Symbol der Einheit. Er ist auch die Straße der Flüchtlinge, die stromaufwärts ziehen, um in reicheren Süden Arbeit zu finden Ein Haufen Hoffnung setzt auf diesem Boot, das den Rio São Francisco stromaufwärts fährt: vertriebenen Bauern aus dem Norden. Sie werden drei Monate lang hier und so leben, bis sie den Süden erreichen und vielleicht Arbeit finden. Das Fahrgeld beträgt 20 Cruzeiros (30 Pfennig). Sie kommen mittellos an, und oft müssen die Frauen betteln, bis die Männer Arbeit haben.

Ein Haufen Hoffnung sitzt auf diesem Boot, das den Rio São Francisco stromaufwärts fährt: vertriebenen Bauern aus dem Norden. Sie werden drei Monate lang hier und so leben, bis sie den Süden erreichen und vielleicht Arbeit finden. Das Fahrgeld beträgt 20 Cruzeiros (30 Pfennig). Sie kommen mittellos an, und oft müssen die Frauen betteln, bis die Männer Arbeit haben

Stadt der Zukunft: São Paulo. Vier Millionen Einwohner. fünfzigtausend Fabriken. Vierhundert Banken. Fünfhundert Milliardäre und mindestens ebenso viele, die vorgeben, es zu sein. Hier entsteht jede Stunde ein neues Haus, jeden Tag ein neues Vermögen. Wie ein Magnet zieht diese Stadt die Flüchtlinge aus dem Inneren des Landes. Die meisten finden Beschäftigung, denn hier gibt es nur 2 Prozent Arbeitslose. Aber São Paulo wirkt wie ein Abszeß. Es zieht dauernd das beste Blut aus einem schon zu dünn besiedelten Land: die Menschen  

„Es gibt keine Kuh ohne Schwanz.“
„Doch.“
„Wo?“
„Weiß ich nicht. Aber es gibt alles.“
„Es gibt keine Fliege ohne Flügel.“
„Doch.“
„Wo?“
„Weiß ich nicht. Es gibt eben alles.“
„Aber es gibt keinen Kommunisten, der an Gott glaubt.“
„Doch.“
„Wo?“
„Hier.“
„Wer?“
„Ich.“
„Schwöre es.“
„Bei Gott.“
Ich höre nur die Stimmen. Sie klingen über eine Mauer hinweg, vor der ich ein paar Kniebeugen mache, während man sich an der Tankstelle um unseren Wagen kümmert. Vierhundert Kilometer auf Feldwegen machen Beine nicht gerade gelenkig.
Die erste Stimme spricht wieder:
„Woher weißt du, daß du an Gott glaubst?“
„Weil ich glaube.“
„Woher weißt du, daß du Kommunist bist?“
„Der Gutsverwalter hat es gesagt, als er mich davonjagte.“
„Was hat er gesagt?“
„Ich sei Kommunist.“
„Warum?“
„Weil ich für die Landreform bin.“
„Und was hast du geantwortet?“
„Daß ich für die Landreform bin.“
„Und was hat er gesagt?“
„Daß ich Kommunist sei.“
„Und bist du Kommunist?“
„Wenn Landreform Kommunismus ist, dann muß ich einer sein.“
„Aha – Du bist also wirklich einer …“
Die grollende Stimme wird plötzlich von einem furchtbaren Krach übertönt. Hundert leere Benzinkanister scheinen beschlossen zu haben, gemeinsam Tanzunterricht zu nehmen. Ich ziehe mich an der Mauer hoch: Auf einem Stapel leerer Öldosen liegt ein Mann, der wie ein Bauer aussieht. Ein stämmiger Kerl hat ihm den Fuß auf die Brust gestellt und läßt Ölreste aus einer Büchse auf sein Gesicht träufeln. Der Bauer krümmt sich vor Lachen. Der andere schreit:
„So, mein Lieber – und jetzt behaupte noch mal, daß du an Gott glaubst. Ein Kommunist hat keinen Gott. Gott gehört uns.“
Mittlerweile haben beide gemerkt, daß sie einen  Zuschauer haben. Sie lassen voneinander ab. Der Bauer steht auf, ohne sein Lachen zu verlieren.
„Und wer sind Sie?“, fragt mich der andere.
„Der liebe Gott.“
Ich habe gerade noch Zeit, mich von der Mauer gleiten zu lassen, bevor ein Öldose dort durch die Luft saust, wo vorher mein Kopf gewesen ist.
„Tausendzweihundert Cruzeiros“, sagt der Tankwart, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl die Büchse vor seinen Füßen landet. „Die streiten schon seit zwei Tagen über Politik.“
Wir fahren weiter. Wir, das sind meine Kollegin Claude Deffarge, Francisco Julião, der Bauernführer Brasiliens, ich und ein gemieteter Volkswagen brasilianischer Fabrikation.
Der Schutzengel der Reporter hat es diesmal besonders gut mit uns gemeint. Wir sind achttausend Kilometer hinter diesem Mann hergejagt, den man den gefährlichsten Revolutionär Südamerikas nennt, und er scheint zu verstehen, daß wir für unsere Ausdauer mehr verdienen als ein nichtssagendes Interview. Juliãos Wagen war im richtigen Augenblick zusammengebrochen, und wir wurden seine Fahrer und Begleiter auf einer langen Reise durchs Innere des brasilianischen Nordostens.
Zunächst hatten wir den Eindruck, Dynamit zu transportieren. „Wenn es nach mir ginge, wäre dieser Kerl schon längst Hundefutter geworden“, hatte uns ein Gutsbesitzer am Vorabend der Abreise gesagt. Bei uns lächelt man über einen solchen Satz. Im Nordosten Brasiliens steht der Ausführung solcher Drohung jedoch kaum etwas im Wege. Man nennt das: „o serviço, den Dienst“, den ein treuer Knecht seinem Herrn leistet. Für ein Trinkgeld.
Später erfahren wir, wie Julião sich am Leben hält, ohne Leibwächter und ohne Spesen. Er hat seinen Bauern zwanzig Großgrundbesitzer genannt, die sofort ermordet werden, falls ihm etwas zustößt. „Zwanzig für einen, das ist nicht fair“, meinen seine Gegner. Aber sie lassen die Hände von ihm. Sie wissen, daß die Bauern auf einen Vorwand zur Rache warten und Hunderte nicht zwanzig den Tod Juliãos mit ihrem Leben bezahlen müßten. Eine bessere Lebensversicherung gibt es hier gar nicht.

Francisco Juliãa, der Fidel Castro Brasiliens, empfängt die Vertreter einer Bauernliga in seinem Landhaus

Die ersten Tage fahren wir vorsichtig, weil wir Angst um Julião haben. Und jetzt, weil wir für uns und die Großgrundbesitzer fürchten. Wenn wir einen Unfall haben, werden sie umgebracht – und wir auch. Denn welchen Bauern könnten wir glaubhaft machen, daß ein Unfall andere Gründe haben kann als geheime Machenschaften, politische Intrigen und materielle Vorteile – wenn Julião das Opfer ist. Und mit uns hinge der bereits sehr verblichene Ruf der westlichen Welt am nächsten Baum.
„Warum hat man die Dose nach dir geworfen?“ will Julião wissen.
„Weil ich der liebe Gott war.“
Er lächelt, und ich erzähle ihm mein kleines Abenteuer.
„Es hat noch nie ein einträglicheres Geschäft gegeben als den Antikommunismus“, meint er. Sobald man anklagend ‚Kommunist’ schreit, bekommt man Macht und Geld. Früher verschrie man alle Nationalisten als Kommunisten. Dann waren es die Gewerkschaften. Heute sind es die Bauern, weil sie nicht mehr getreten werden wollen. Und die Studenten natürlich, weil sie nachdenken können. Sobald man an den traditionellen Interessen rüttelt, wird man ‚Kommunist‘ , das heißt: Freiwild. ‚Sei Patriot, leg  deinen Kommunisten um‘, flüstert man sich in der guten Gesellschaft zu. Daß diese Art Antikommunismus, diese bewußt geschaffene Hysterie, nur die Tarnung eines neuen Faschismus ist, dürfte dir bereits aufgefallen sein. In Europa, in den Vereinigten Staaten. Hier.
Andererseits bleibt uns kaum ein anderer Weg: Wir müssen ja zu Kommunisten werden, wenn jeder Schrei nach sozialer Gerechtigkeit als kommunistischer Kriegsruf bezeichnet wird. Wenn man uns wie Aussätzige behandelt, dann müssen wir unter die Aussätzigen gehen, um leben zu können.“
„Bist du Kommunist?“
„Ich gehöre zur sozialistischen Partei Brasiliens und habe viele kommunistische Freunde, ich kann mich aber nicht als Kommunist bezeichnen. China bewundere ich sehr, auch Russland hat mich beeindruckt. Beide Länder habe ich als Gast besucht.“
„Marxist?“
Julião lächelt: „Ich muß dir gestehen, daß ich nie Zeit hatte, mich in Marx zu vertiefen. – am liebsten lese ich Jules Verne und Proust. – Ich stehe zu keinem Dogma.“
„Bist du Christ?“
„Nein, ich glaube nicht an Gott. Ich verehre jedoch den Menschen Christus über alles. Er war ein größerer Revolutionär als Mao Tse-tung, Gandhi oder Fidel Castro. Er predigte Liebe und Gerechtigkeit und umgab sich mit Armen: Fischern, Schreinern, Bettlern. Nenn mir einen Reichen unter seinen Jüngern. Er war gegen Haß und Verfolgung. Wenn er heute wiederkäme, würde man ihn einen Kommunisten nennen. Er wurde von den Pharisäern gekreuzigt, den Kapitalisten seiner Zeit.“
„Und wie würde man ihn in Rußland nennen?“
„Einen Revisionisten wahrscheinlich.“
Wir kommen in Santa Rita an, einer kleinen Stadt im Staate Paraibo. Die Bauern haben sich auf dem Hauptplatz versammelt, um Julião zu hören. Raketen steigen auf, als feiere man den Namenstag eines Heiligen.
Wir sind zwei Stunden zu spät. Wie immer. Pünktlichkeit und präzise Organisation gehören nicht zur brasilianischen Mentalität. Unterwegs hat Julião uns die Blumen erklärt, die Käfer, die tausend Früchte Brasiliens. Wir haben Kokosmilch getrunken und am Strand über Politik diskutiert, als gehöre unser ganzes Leben nur diesen Momenten. Es wurde nie auf die Uhr geschaut. Und wie immer haben die Bauern geduldig gewartet.
Auch heute hören wir in der abendlichen Rede das Echo unserer täglichen Gespräche:
„Meine beiden Freunde, die ausländische Journalisten, die ihr hier seht, haben viele Länder bereist, in denen das Volk ebenso arm und geknechtet ist wie hier. Überall sind es die gleichen drei Worte, welche die Massen aufrütteln, die gleichen drei Mächte, die sie in Armut halten, die gleichen drei Feinde, gegen die sie sich zusammenschließen. Diese drei Feinde heißen: Imperialismus, Korruption, Großgrundbesitz …“
„Nieder – nieder mit ihnen“, rufen die Bauern, und dann: „Es leben die ausländische Journalisten. „Wir müssen ein paar Diener machen und fühlen uns gar nicht recht wohl in unserer Haut. Julião lächelt uns zu, als habe er uns einen guten Streich gespielt, und fährt fort:
„Wir müssen diese drei Mächte zerschlagen. Unser Kampf gilt ihnen, den Verantwortlichen eures Elends. Nur wenn wir sie besiegen, könnt ihr aus der totalen Misere, in der ihr heute lebt, wenigstens zu ehrbarer Armut aufsteigen. Ja – unsere Wahl heißt nicht Not oder Reichtum. Sie heißt Unterdrückung, Ausbeutung, Erniedrigung – oder Gerechtigkeit. Und wenn diese drei Mächte nicht freiwillig Gerechtigkeit widerfahren lassen, dann werden Feuer und Schwert uns das Recht erzwingen, als freie Menschen auf dieser Erde zu leben.“
Deutlicher kann er sein Programm nicht verkünden. Obwohl Julião noch manchmal von Reform spricht – aus taktischen Gründen wahrscheinlich -, ist er überzeugt, daß eine gewaltsame Revolution in Brasilien und ganz Lateinamerika unumgänglich ist.
Seine Begründung ist einfach und logisch: Durchgreifende Reformen können nur auf Kosten der Interessen der herrschenden Schicht durchgeführt werden. Wenn sie überhaupt Sinn haben sollen, bedeuten sie sofortige materielle Opfer sowie Einbuße an politischem Einfluß – und auf lange Sicht den Verzicht auf die Macht. Nun kann man nicht erwarten, daß jemand sich plötzlich aus sozialem Gerechtigkeitssinn ein paar Glieder abgehackt oder gar Selbstmord begeht.

Lauter Lügen über Julião

Mithin kann das heutige System bestenfalls Reförmchen versprechen, die keines der Übel beheben, sondern nur die Spannungen vorübergehend abschwächen.
Andererseits bleibt der demokratische Weg verschlossen, das heißt das Erringen einer Mehrheit, welche die notwendigen Reformen beschließt und durchführt, weil die Mehrzahl der Menschen, um die es geht – die Bauern -, Analphabeten sind und als solche nicht wählen dürfen. Es bleibt also nur die Revolution, der Kampf der Mehrheit gegen jene Minderheit, welche die ausschließliche Verantwortung für die katastrophale Lage des Landes trägt.
Aber Julião rechtfertigt die Revolution nicht durch eine geschichtliche Dialektik, die das Volk oder das Proletariat zur Herrschaft bestimmt. Er vertritt kein Dogma, das den Sieg des Sozialismus als unabwendbar voraussetzt. – Nie hören wir bei Julião einen Hinweis auf Marx oder Lenin.
Er gehört zur „Neuen Welle“ der lateinamerikanischen Rebellen, die nichts mehr mit den herkömmlichen „Revolutionären“ gemein haben. Diese wollten nie etwas verbessern, außer ihr Schweizer Bankkonto. Sie sind das Abziehbild der herrschenden Schicht und nutzen unruhige Verhältnisse demagogisch aus, um sich persönlich zu bereichern. Die neuen Männer hingegen sind der Ausdruck einer revolutionären Situation.
Deshalb unterscheiden sie sich auch grundsätzlich von den Kommunisten. Während die Partei alles in Bezug auf den Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab bewertet und deshalb Elend, Unterdrückung, Knechtschaft zunächst als taktische Waffen ihres globalen Kampfes ausnutzt, fordern die neuen Revolutionäre die sofortige und totale Ausrottung ihrer Ursachen. In diesem Falle die Ausrottung des Imperialismus, der politischen Korruption und des Großgrundbesitzes, wie sie sagen.
Sie sind daher bedeutend radikaler als die Kommunisten, deren internationale Bindungen jede Improvisation ausschließen, und die in ihrer dogmatischen Verkalkung unfähig sind, sich um Menschen, wirkliche Menschen und ihre Probleme, zu kümmern. Aber gerade das wollen die neuen Männer, rücksichtslos.
Der reinste Ausdruck dieser neuen Welle ist Fidel Castro. Der Fidelismus bleibt – trotz gegenteiligen Anscheins – der Todfeind des orthodoxen Kommunismus. Denn Castro ist nicht „Kommunist geworden“: Er hat sich keiner Disziplin unterworfen, keine Regeln oder Normen angenommen. Er ist ins kommunistische Lager gedrängt worden und versucht jetzt, die Kommunisten seines Landes zu unterwerfen, die Partei zu zwingen, das Instrument des Fidelismus zu werden, eines radikalen, pragmatischen Gerechtigkeitsfanatismus, dessen Zentrum der einzelne Mensch ist – und nicht „die Menschheit“. Wenn ihm das gelingt, ist Südamerika für die Kommunisten verloren. Sollte er jedoch scheitern, dann mögen die anderen Völker die Lehre daraus ziehen, daß es auf ihrem Kontinent keinen anderen Weg geben kann außer den Kapitalismus oder den Kommunismus. Diesen anderen Weg wollte der Fidelismus einschlagen. In Kuba scheint er gescheitert zu sein.
Auf dem Festland ist der Fidelismus noch nicht gezwungen worden, zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu wählen. Er ist heute noch die herrschende revolutionäre Bewegung Südamerikas. Julião ist dort ihr bedeutendster Vertreter. Aber er hat kein Geld, keine Kader, keine andere Macht als die nahezu religiöse Verehrung der Bauern und die fanatische Unterstützung der Studenten. Von den Bauern Beiträge zu verlangen, entspräche ungefähr der Aufforderung an eine tote Gans, goldene Eier zu legen. Außer seinen Diäten als Landtagsabgeordneter von Pernambuco hat Julião keinen Pfennig. Und auch wir sind nur deshalb seine Chauffeure geworden, weil er ohne unseren Mietwagen kaum die Mittel gehabt hätte, eine solche Reise zu unternehmen. Unterwegs schlafen wir in kleinen billigen Hotels, in Zimmern ohne Fenster und mit durchgelegenen Betten – weil Julião sparen muß.

Hier muß ich meinen Bericht unterbrechen. Im amerikanischen Nachrichtenmagazin „Newsweek“ lese ich in einem großen Kommentar über Julião, er habe sich zum Kommunismus bekannt. – Alles was wir gesehen, gehört, erlebt haben, muß also falsch sein. Ich kann es einfach nicht glauben, daß drei Monate Erfahrung umsonst gewesen sind und schreibe an Julião. Heute erhalte ich seine Antwort: „Meu caro Troeller“, schreibt er. „Acabo neste minuto … ich erhalte in diesem Moment Ihren Brief und den Ausschnitt aus Newsweek. Ich erkläre kategorisch, daß ich niemals und vor niemandem behauptet habe, Kommunist zu sein. Ich bin so geblieben, wie Sie und ihre Kollegin mich in Brasilien kennengelernt haben. Die Nachricht der Presse ist nichts als eines der üblichen Manöver  …“
Bereichert durch die Erfahrung, daß Nachrichtenmagazine nicht immer Nachrichten bringen, schreibe ich also weiter.

Julião lehnt die Unterstützung der Kommunisten nicht ab. Im Gegenteil, er ist auf ihre Hilfe angewiesen, denn sie haben, was er nicht besitzt: Geld und eine gut funktionierende Organisation. Und die Kommunistische Partei versucht seine Mittellosigkeit auszunutzen. Sie will ihn abhängig machen, sich in aller Augen mit seiner Bewegung identifizieren. Sie will ihn zwingen, sich der Disziplin der Partei zu unterwerfen, bevor er so stark geworden ist, daß er sie aufschluckt.
Sie haben gedroht, ihre Hilfe verweigert, eigene Bauernführer auf die Beine zu stellen versucht. Es hat nichts geholfen. Julião hat sich geweigert, der Partei beizutreten. Daraufhin habe sie an Fidel Castro geschrieben, er solle seinen Einfluß geltend machen und Julião zur Unterwerfung zwingen. Sie waren schlecht beraten oder hatten den Sinn des Kampfes zwischen Fidelismus und Kommunismus noch nicht verstanden: Castro schickte diesen Brief einfach an Julião weiter und unterrichtete ihn somit über die Intrigen der kommunistischen Parteiführung. Deutlicher konnte er ihm kaum zu verstehen geben, außerhalb der Partei zu bleiben.
Wir erfahren von diesem Briefwechsel – der ein neues Licht auf den Kampf in Südamerika wirft – durch eine ungewollte Indiskretion. – Als wir mit einem der bedeutendsten brasilianischen Volkswirtschaftler darüber sprechen, erklärte uns:
„Die Frage, ob Brasilien in den nächsten zehn Jahren kommunistisch wird oder an irgendeiner der vom Westen vertretenen Formen der Demokratie festhält, stellt sich gar nicht mehr. Die Alternative heißt: Kommunismus oder Fidelismus. Dabei meine ich nicht den kubanischen Fidelismus, der durch außenpolitischen Druck auf Abwege gedrängt worden ist. Nein, ich meine den echten, unverfälschten Fidelismus, wie ihn die meisten wollen: Ich meine eine Revolution ohne dogmatische Vorurteile.“
Meine ungläubige Miene muß ihm nicht passen, denn er fügt schnell hinzu: „Dass eine Revolution hier geradezu überfällig ist, müssen Sie zu geben.“
„Vielleicht. Aber soviel ich weiß, gibt es großzügige Pläne, um sie aufzufangen. Ich denke dabei an Kennedys ‚ Bündnis für den Fortschritt‘, wo doch schöne 800 Millionen Dollar für Brasilien herausspringen.“
Mitleidiger bin ich selten angesehen worden.
„Kennedy ist ein unerhörter Kerl. Wenn einer begriffen hat, was hier los ist, dann er. Aber es ist zehn Stunden nach Mitternacht. Kennedy kommt leider um 10 Jahre zu spät. Südamerika ist pleite. Wir sind pleite. Brasilien ist pleite.“
„Ihr habt 3,8 Milliarden Auslandsschulden und eine galoppierende Inflation, ja. Aber …“
Er läßt mich nicht ausreden: Unsinn. Wenn ich pleite sage, meine ich nicht das Geld. Ich spreche vom ganzen System. Wollen Sie ein Beispiel? Gut. Nehmen wir ein Unternehmen, irgendeins. In Deutschland oder wo sie wollen. Es ist nur dann gesund, wenn es allen Beteiligten, Arbeitern, Angestellten, Direktoren ein anständiges Leben ermöglicht. Das heißt, wenn es so viel einbringt, daß alle davon leben können. – Wenn es das nicht tut, ist es unrentabel. Einverstanden? Gut. – in diesem Fall gibt es zwei Wege: den gesunden, den jeder Unternehmer der freien Marktwirtschaft einschlagen würde – und den fatalen.
Der gesunde besteht darin, daß man die Fehler im System behebt, daß man umorganisiert, neu verteilt usw. oder – wenn der Markt einer solchen Industrie keine Chancen mehr gibt, die Bude zumacht und sein Kapital, seine Arbeitskräfte usw. in ein neues Unternehmen steckt, von dessen Gewinn alle Betroffenen leben können.
Auf den unheilvollen Weg begibt man sich, wenn man gar nicht daran denkt, neu zu organisieren, das System zu ändern oder umzusetzen, solange die paar Herren an der Spitze sich die Taschen füllen können. In einem Betrieb, der nicht genug für alle abwirft, können sie das natürlich nur auf Kosten der übrigen Beteiligten tun. Das heißt, sie zahlen Hungerlöhne.
Nun schön. Was geschieht? Die Arbeiter sind keine ‚Beteiligten‘. Sie sind Sklaven, die am Leben erhalten werden, weil man sie braucht. Und eines Tages kommt ihnen die Idee, daß der Betrieb doch rentabel sein könnte, wenn man ihn umorganisiert oder umstellt, und sie fordern das Recht, das zu tun, was die Verantwortlichen unterlassen haben: das System zu ändern.
Nun müssen Sie zugeben, daß eine Nation nichts anderes ist als ein großes Unternehmen, dessen simpelste Aufgabe darin besteht, alle Bürger zu ernähren. Wenn sie das auf eine Art nicht schafft, muß sie so lange neue Wege suchen, bis der ‚Betrieb für alle Beteiligten rentabel ist‘. – Sollten die Verantwortlichen dies jedoch ablehnen – weil es   i h n e n  ja nicht schlecht geht – und den unheilvollen Weg einschlagen, dann ist es unvermeidlich, daß Männer aufstehen und so lange schreien, schlagen und töten, bis das alte System kaputt ist und der gesunde Weg eingeschlagen wird. – Das ist Revolution. In Südamerika ist sie schon lange überfällig. Denn hier haben die bis heute geübten Systeme den fatalen Weg gewählt. Sie haben deshalb, wie ich schon sagte, pleite gemacht. Sie sind völlig unrentabel für die Mehrheit der Beteiligten.“
„Und die vielen Millionen, die jetzt von den Vereinigten Staaten in den Betrieb hineingepumpt werden, können die nicht helfen?“
„Sie könnten es, wenn sie zur Reorganisation des Systems benutzt würden, zur Änderung der Strukturen, wie Kennedy es sehr richtig verlangt. Wirtschaftliche Piraterie und politische Gaukelei möchte er in einen gesunden, sozial denkenden Kapitalismus umformen. Das schafft keiner im Bunde mit Piraten und Gauklern. Sie werden ja selbst sehen, was mit der Wirtschaftshilfe passiert.“
„Und deshalb glauben Sie, daß sich die Wahl nur noch zwischen Kommunismus und Fidelismus stellt?“
„Mit einigen faschistischen Intermezzos, ja.“
„Darf ich Sie noch fragen, wen Sie persönlich vorziehen?“
„Die Fidelisten natürlich. Ich hasse Kommunisten, weil man mit ihnen nicht reden kann. Ich muß hinzufügen, daß ich selbst ein eingefleischter Anhänger der freien Wirtschaft bin.“
„Aber die Fidelisten sind viel radikaler als die Kommunisten.“
„Mein lieber Freund – wie ich schon sagte: Mit den Kommunisten kann man nicht reden. Die sind verbohrt. Die wollen ihre ‚Wahrheit‘ verwirklichen, ob es geht oder nicht. Die Fidelisten hingegen wollen ändern – mit Recht. Radikal ändern – mit Recht. Aber sie wollen nicht die Genauigkeit eines Systems unter Beweis stellen, sondern den ‚Betrieb rentabel‘ machen für alle. Und da können wir ihnen ein paar gute Tipps geben – so im Laufe der Entwicklung. Der echte Fidelismus ist noch im Werden, vergessen Sie das nicht. Studieren Sie die Fidelisten, und Sie werden die Zukunft Amerikas deuten können.“
„Ich habe einen im Wagen“, sage ich lächelnd. „Julião.“
Seine Augen blitzen plötzlich voller Begeisterung.
„Sind Sie ein Spion.“
„Nein. – Warum?“
„Schade. – Ich hatte plötzlich die Idee, daß der Westen gescheit geworden wäre. Ich sah sie in der Rolle eines amerikanischen oder deutschen Agenten, mit dem Auftrag, Julião heimlich Geld zu geben. – Wenn ich Kennedy wäre, würde ich das ganze ‚Bündnis für den Fortschritt‘ zum Teufel jagen und diesen Kerlen mein Geld geben.“ Er blinzelt mir zu: „Nennen Sie meinen Namen nicht – aber schreiben Sie dies vor allem.“

Pedro hatte einen Hund, mit dem er den ganzen Tag herumtollte. Er war sein einziger Kamerad, das einzige Spielzeug, das er besaß. Eines Tages kam sein Vater und erschoß das Tier.
„Warum?“, wollte Pedro wissen.
„Wir müssen unser Heim verlassen“, sagte der Vater, „und unterwegs haben wir kein
Futter mehr für den Hund.“
„Dann erschieß mich auch“, schluchzte Pedro.
„Besser wär’s, denn auch du wirst wahrscheinlich verhungern.“
Wir finden Pedro am Straßenrand. Er liegt über seinem toten Freund und weint. Es dauert lange, bis wir ihn beruhigt haben und er uns seine Geschichte erzählt. Mittlerweile kommen auch der Vater und die Mutter und die sieben Geschwister.
Der Vater versucht seine Tat zu rechtfertigen. Er erzählt uns, daß die Zuckerplantage verkauft worden ist und alle Bauern das Land verlassen müssen. Sie wissen nicht wohin. In dieser Gegend gibt es keine andere Arbeit. Sie wollen vielleicht nach Recife, oder in kleinen Städten betteln gehen. Sie haben Angst. Ob man nicht seine Kinder verkaufen könnte, meint er, dann brauchten sie nicht zu verhungern. Die Mutter wendet sich ab und legt die Hände auf ihren Leib, der schon wieder ein neues Leben trägt. Die Töchter weinen.
„Wie lange seid ihr schon auf diesem Boden?“ frage ich.
„Zwei Leben.“
„Wie viele sind in eurer Lage?“
„Viele – fast alle sind schon länger hier als ein Leben.“
„Wie groß ist die Plantage?“
„Groß. – Sehr groß. – Die halbe Welt.“
„Und wenn ihr einfach hierbleibt?“
Er blickt mich verständnislos an. „Sie haben zuerst die Witwen davongejagt. Gestern Nacht haben sie zwei Häuser angesteckt, um auch uns Männern Angst zu machen. Sie treiben Kuhherden durch unsere Gärten. So hungern sie uns aus. Denn wir haben nichts anderes mehr zu essen als das, was wir gepflanzt haben.“
„Gibt es denn keinen Ausweg?“
„Padre Mello will uns helfen. Der ist ein guter Mann. Aber was soll er machen? Wir werden nie mehr Boden besitzen als den Dreck unter unseren Fingernägeln.“


Gott und Gewehre beherrschen den Certão, das Reich der Cangaceiros, das Herz des Nordostens.
Sie sind immer gegenwärtig, genau wie der Tod, der über jeder Landschaft schwebt und Teil des Lebens ist. Hier heißt er Dürre. Die Menschen fliehen. Sie verschwinden im Strom derer, die aus anderen Gegenden, von anderen Nöten getrieben, ihre Hoffnungen in die Städte schleppen

Getarnter Massenmord

Padre Mello ist der Vikar der nächsten Stadt: Cabo. Er ist 29 Jahr alt. „Ihr wollt wissen, was hier los ist?“ ruft er uns als Begrüßung entgegen. „Der Teufel ist los – ja, der Teufel.“ Und er erklärt uns die Lage:
Die Coperbo, eine gemischte Gesellschaft (25 Prozent Staatsanteile, 75 Prozent Privatkapital) will in der Nähe von Cabo eine Fabrik bauen zur Herstellung von synthetischem Gummi. Vor drei Monaten hat sie hier eine Zuckerplantage erworben. Insgesamt 4500 Hektar für 77 Millionen Cruzeiros (1 Million Mark). Am gleichen Tag erschien der Vizepräsident der Gesellschaft, ein Herr Vega, und erklärte, daß keine der 552 Landarbeiterfamilien mehr das Recht hätte, ihren Garten zu bebauen, daß alle innerhalb von sechs Monaten das Land räumen müßten. Das gleiche gilt für 200 weitere Familien, die in Gemeinschaftshäusern wohnen. Das sind insgesamt 5000 Menschen, die davongejagt werden, ohne Entschädigung, ohne Hoffnung auf neue Arbeit, ohne zu wissen wohin.„Aber man braucht doch keine 4500 Hektar, um eine Fabrik zu bauen“, werfe ich ein.
„Zwölf Hektar, mein Lieber. – Genau zwölf Hektar Industriegelände sind vorgesehen. Der Rest ist pure, gemeine Spekulation. Wenn einmal die Fabrik steht und der Staat Straßen,Elektrizitätswerk und was sonst noch alles gebaut hat, dann sind die 4500 Hektar Land zwanzigmal soviel wert wie heute. Dann werden sie wieder verkauft. Und wie Sie wissen, ist unbesiedeltes Land hier teurer als bewohntes. Deshalb müssen die Bauern ’raus.“
Der Vikar hat sich in Feuer geredet. Er sieht aus wie ein verkleideter Gewerkschaftsführer. „Aber ich kämpfe bis zum Tode gegen diese Maßnahmen, die getarnter Massenmord sind. Ich habe die Bauern aufgefordert, in ihren Hütten zu bleiben. Selbst wenn es Kampf geben sollte. Ein Hirte muß bei seiner Herde bleiben und sie gegen die Wölfe schützen.“

Am gleichen Abend sind wir in Recife im deutschen Konsulat zum Cocktail eingeladen.
Die Bundesregierung hat 200 Millionen Mark Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt, die hier im Nordosten ausgegeben werden sollen. Der Beauftragte, der die Millionen in der Tasche hat, ist der Ehrengast des Festes. Im Gedränge stoße ich auf den französischen Wirtschaftsattaché aus Rio de Janeiro, der auch 12 Millionen Dollar in der Tasche hat (48 Millionen Mark).
„Wofür?“, frage ich ihn.
„Entwicklungshilfe, natürlich. Die Amerikaner drängen uns, Geld in dieses Pulverfaß des Nordostens zu stecken, bevor es in die Luft geht. Nächste Woche kommen sie selber hierher mit vielen Millionen Dollar. Dann ist der Laden komplett.“
„Das große, Bündnis für den Fortschritt‘ ist in vollem Schwung?“
„Genau. Wie Sie wissen, geht es darum, Projekte zu finanzieren, die in kürzester Zeit soziale Besserungen bringen. Wir stecken unsere 12 Millionen Dollar in eine synthetische Gummifabrik.“
„In Cabo?“
„Ja, in Cabo. – Was haben Sie? – Warum schauen Sie mich so komisch an?“
Ich erzähle ihm, was wir in Cabo erlebt haben.
Er ist blaß geworden: „Das kann nicht wahr sein …“
„Ich habe es gesehen und mit allen Beteiligten gesprochen. Selbst mit dem Gutsverwalter, der den Befehl hat, die Bauern ’rauszuschmeißen. Ihre 12 Millionen erlauben ein paar Leuten, eine fantastische Spekulation zu machen. Dabei gehen nur 5000 Menschen drauf: Das soziale Problem ist gelöst. Es lebe das ‚Bündnis für den Fortschritt‘. Ich begreife immer besser, was Julião meinte, als er vom Geschäft des Antikommunismus sprach.“
„Ça ne se passera pas comme ça. O nein. Der Vertrag soll morgen unterschrieben werden. Denen werd’ ich’s zeigen. Ich unterschreibe nur, wenn kein Bauer mehr vertrieben wird.“
Als ich mich verabschiede, ruft er mir noch nach: „Und organisieren Sie mir ein Treffen mit Julião …“
Zwei Tage später besuchen wir wieder Padre Mello.
„Wir haben gesiegt“, schreit er uns schon von weitem zu. „Herr Vega ist persönlich hier gewesen. Ganz aufgeregt. Die Bauern dürfen bleiben. – Ich verstehe gar nichts mehr. Was ist passiert?“
„Lieber Padre, zwölf Millionen Dollar sind ein stärkeres Argument als fünftausend Menschen …“

Im nächsten stern : Wer leben will, muss spielen

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