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Die hohe Schule der Liebe (Indien)

Stern, Heft 40, 3. Oktober 1965

Indien reicht eine beneidenswert schöne Visitenkarte in der Welt herum: Vergeistigung, Nächstenliebe, Gewaltlosigkeit, Achtung vor dem kleinsten Tier, Weisheit, Yoga, alte Kultur, große Philosophen und heilige Männer in Massen. – Es scheint die einzige Nation zu sein, der es gelungen ist, im Alltag Gut und Böse zu versöhnen. Kein Wunder also, wenn die indischen Lehren überall begeisterte Anhänger fanden, die Zivilisationskranken der großen Städte Europas und Amerikas glaubten, an ihnen zu genesen. Vom moralischen Wiederaufbau bis zum erquickenden Kopfstand, vom rhythmischen Atmen bis zur Meditation – ja, sogar Übungen zur Steigerung der sexuellen Potenz wurden eifrig imitiert. Der Inder betreibt sie natürlich nur, um diese Kraft in Geist umzusetzen. Im materialistischen Europa dagegen… Wie dem auch sei, Indien brachte und bringt heute noch vielen mit erprobten Rezepten die Hoffnung auf ein sinnvolleres Leben.
In solch einem Land kann auch die Frau nicht unterdrückt oder mißhandelt werden. Beweise: Frauen sind Botschafter, Anwälte, Ärztinnen, Abgeordnete. Die Inderin hat zu allen Berufen Zugang. Es genügt schon, sie zu beobachten, wenn sie in ihrem Sari durch europäische Städte schreitet. Alles an ihr strahlt Sicherheit und inneres Gleichgewicht aus. Unsere Frauen blicken neidisch auf ihre Eleganz, ihren königlichen Gang. Die Männer starren neugierig auf die paar Dutzend Quadratzentimeter nackter Taille, die vom kunstvoll gefalteten Sari unverdeckt bleiben. Sie glauben auch zu wittern, daß hier die Hüterin erotischer Geheimnisse einherschreitet. Eine Priesterin der Liebe. Denn auch auf diesem Gebiet hat Indien den Ruf, ein Paradies zu sein.

Wer hat noch nichts über Kamasutra gehört, das größte Lehrbuch in der Kunst des Liebens? Wer hat nicht vom Tadsch Mahal gehört, einem der Weltwunder, das nur aus Trauer über den Tod einer geliebten Frau errichtet wurde und heute noch unwiderstehlich auf die Tränendrüsen aller weiblichen Touristinnen wirkt. Und die indischen Tempel sollte man kennen. Dort wird die Erotik als fröhliche Beteiligung des Menschen am kosmischen Geschehen dargestellt. Ohne Scham. Ohne die Verhüllung des kleinsten Details. Reigen sich Liebender tanzen in unübersehbarer Zahl gen Himmel. Sogenannte Perversionen werden ins religiöse Weltbild eingegliedert wie Liebesakrobatik und zärtlich umschlungene Paare.

Was in den Augen unseres prüden 19. Jahrhunderts noch verwerfliche Pornographie war, wurde langsam zur Kunst ernannt und endlich als eine Verherrlichung der schöpferischen Kräfte der Erotik verstanden. Seither liegen Bildbände über die indischen Tempel in allen Büchereien aus.
In ihrer grenzenlosen Weisheit hatten die Inder uns abermals eine Lektion erteilt: Obwohl sie – von der Sinnlosigkeit alles irdischen Seins überzeugt – nur nach der Einheit mit dem Göttlichen streben, um so, vom Fluch irdischer Wiedergeburt befreit, endlich im Nirwana das absolute Glück zu finden, hatten sie erkannt, daß die physische Ekstase vielleicht ebenso zur besagten Einheit führen kann wie Meditation, Askese und Entsagung. Die auf den Tempelmauern in die Wolken stürmenden Figuren zeigen nur einen der vielen Wege zum Nirwana.
Man sollte annehmen, daß ein so weises Volk auch die Beziehung zwischen Mann und Frau harmonisch gelöst und sexuelle Tabus auf ein Minimum beschränkt habe. – So wenigstens glaubten wir, als wir in Bombay ankamen.
Auf dem Flugplatz ist Hochbetrieb. Besonders fröhlich benimmt sich eine Gruppe von zwölf Europäern, die trotz des Alkoholverbots halb betrunken sind.
Eine kameradschaftliche Hand legt sich auf meine Schulter: „Sie Glückspilz kommen wohl aus Bangkok – was?“
„Nein.“
„Poor chap (armer Knabe)“, lallt die Whiskyfahne. „Sie sollten nach Bangkok fliegen. – Indien ist ein sexuelles Notstandsgebiet. Wir müssen alle paar Monate raus, sonst kriegen wir einen Koller.. Kneif ein Mädchen, und du wirst ausgewiesen – aber Bangkok. das ist das Paradies …“

Indien ist mit Tempeln und Göttern übersät. Tausende von Sekten und Kasten sind eben so viele Gefängnisse für die Frau. Zur Unterwürfigkeit verurteilt dient sie  Gott und dem Mann

Es ist früh am Morgen. Die Stadt erwacht. Auf dem Weg vom Flugplatz zum Zentrum erkennen wir im Morgengrauen Tausende von Menschen vor ihren Hütten und Häuschen. Sie reiben sich nicht den Schlaf aus den Augen. Sie sitzen da mit ihren nackten Hintern. Es sieht gespenstisch aus. All diese nackten Gestalten, die ihre Notdurft verrichten, als säßen sie bequem und allein hinter geschlossener Tür. Das Land der Reinheit begrüßt uns nicht gerade von seiner schönsten Seite.
Wir haben ein paar Adressen. Menschen aus allen Schichten. Wir beginnen bei einem Ingenieur:
„Mein Vater ist nicht zu Hause“, antwortet uns ein Junge von vielleicht zwölf Jahren.
„Können wir dann vielleicht mit deiner Mutter sprechen?“
„Nein. Das geht leider nicht. Sie kommt erst übermorgen aus ihrem Zimmer heraus.“
Unrein! Ich hätte es fast vergessen. Frauen sind einmal im Monat unrein und müssen sich für vier Tage zurückziehen, damit niemand angesteckt wird. Deshalb arbeiten in unserem Hotel auch keine Frauen. Wie könnte man wissen, wann sie unrein sind. Nur wenige Inder würden ein solches Risiko eingehen.
Rein oder Unrein regelt den Verkehr zwischen Menschen, wie bei uns Rot und Grün die Flut der Autos. Dabei kommt es weniger auf Kot, Bazillen, Schmutz oder Blut an; geregelt wird, wer wem was reichen darf und was wie von wem verrichtet werden muß.
Im Hotel besucht uns ein Offizier mit seiner Schwester und einer jungen Anwältin. Die beiden Frauen sind aufgeschlossen, intelligent, hübsch, redegewandt, selbstsicher. Das moderne Indien, wie man es sich vorstellt.
Nur Ausländer haben die Erlaubnis Bier zu trinken. Als der Ober sich weigert, mehr als zwei Gläser auf den Tisch zu stellen, bieten Marie-Claude Deffarge und ich den indischen Gästen an, aus unseren Gläsern mitzutrinken. Betretenes Schweigen, besonders Krishna, die Anwältin, sieht aus, als habe sie einen Stock verschluckt.
Wie konnten wir vergessen, daß es sich in Indien nicht schickt, etwas an den Mund zu führen, was andere bereits mit den Lippen berührt haben.
„Küßt Ihr Euch denn nie?“, fragt -Marie-Claude rundheraus.
„Nur die ganz modernen tun das, die dem Westen nacheifern.“
„Sind Sie modern?“, frage ich Krishna.
„Mein Beruf ist modern, aber ich küsse nicht.“
„Weil es unrein ist?“
„Auch darum – aber mein Fall ist komplizierter …“
Krishna ist eine Kaschmiri Brahmanin, das ist die exklusivste Kaste, das höchste an Heiligkeit, menschlicher Würde und gesellschaftlicher Stellung. Aber es ist irreführend, soziale Begriffe als Vergleich zu nutzen. Die Kaste ist nicht als Klasse zu verstehen. Ein Brahmane (höchste Kaste) ist keineswegs mit unseren Krupps oder Thyssens zu vergleichen. Er kann sogar arm sein. Und ein Unberührbarer (unterste Kaste) ist nicht mit einem Handlanger, Landstreicher oder Bettler gleichzusetzen.
In die Kaste wird man hineingeboren. Die jeweilige Stufe hängt von den Verdiensten des vorigen Lebens ab. Unsere europäische Klassengesellschaft staffelt sich nach Tüchtigkeit und Geld, die man zu Lebzeiten vorzuweisen hat. Man kann in seinem Leben sogar mehrere Male die soziale Leiter hinauf und wieder herunterrutschen. Das ist im indischen Kastensystem ausgeschlossen. Die Kaste ist ein Gefängnis. Es geht weder vorwärts noch zurück. Die gesellschaftliche Pyramide ist eingefroren.
Krishna also gehört zur Creme der Brahmanen. Sie ist bildschön, zweiunddreißig Jahre alt, unverheiratet, Jungfrau und sogar ungeküßt. Warum? Weil es nur wenige Kashmiri Brahmanen gibt und die unverheirateten Männer dieser Kaste sehr selten sind. Krishnas Eltern geben regelmäßig in allen Teilen des Landes Heiratsanzeigen auf – ohne Erfolg.
„Wie können Sie sich das gefallen lassen?“, ruft Marie-Claude, „Sie, eine Anwältin, eine Frau, die mit beiden Beinen im modernen Leben steht …“
Sie kommt nicht weiter. Der Leutnant der Luftwaffe unterbricht:
„Gottlob, daß Kasten noch respektiert werden! Ich bin auch modern. Aber schauen Sie sich doch die Regierung an. Schlamassel. Warum? Weil dort Leute sitzen, die nicht zum Regieren geboren sind. Das war früher Sache der Radschputen. Unsere Kaste hatte die Aufgabe zu herrschen und zu kämpfen. Man sollte uns wieder das Kommando geben, dann würden wir auch mit Pakistan aufräumen.“

Wenn die Herren Krieg führen, drücken Sie den Frauen Flinten in die Hand. Für Sterben sind sie gleichberechtigt. Im Leben müssen sie dienen, gehorchen, kuschen. Seine Freuden teilt der Inder mit hochqualifizierten Fachkräften. Ihnen verdankt Indien heute noch den Ruf, ein erotisches Paradies zu sein

Der Leutnant singt ein Loblied auf seine Kaste. Und auch die Sikhs werden in den Himmel gehoben, jene Kaste, die geschworen hat, Bart und Haare erst dann wieder zu schneiden, wenn alle Mohammedaner aus dem Land verjagt sind. Dieser Schwur ist fünfhundert Jahre alt. Und so sehen die Herren Sikhs auch aus.
„Tolle Kerle“, meint der Leutnant. „Die hätten Sie an der Arbeit sehen sollen, als die Mohammedaner nach der Unabhängigkeit Indiens davonrannten. Und die Sikhs haben ihre Säbel nicht weggeworfen. Warten Sie mal ab, bis es wieder losgeht.“
Ich erinnere an Gandhis Lehre von der Gewaltlosigkeit. Aber er winkt ab. Gandhi sei ein Spinner gewesen. Ihm habe man diese Legende zu verdanken.
In Indien gibt es Kasten, deren Aufgabe es ist, zu kämpfen und zu töten. Dazu gehört auch er. Die Radschputen lernen bereits im Mutterleib, wie sie der Hebamme das Messer entreißen können, um selber die Nabelschnur durchzuschneiden.
Unser Leutnant ist hoch beglückt, daß die allgemeine Wehrpflicht nicht eingeführt worden ist. Dann wären die Kasten eingezogen worden, die den Kampfgeist der Truppe gebrochen hätten.
„Stellen Sie sich vor“, sagt er, „am Bombenauslöser meiner Maschine säße ein Dschain. Das sind die Leute, die nur durch Taschentücher atmen, um nicht aus Zufall kleine Insekten zu verschlucken und zu töten. So ein Kerl muß doch versagen – denn eine Bombe tötet.“
„Und zwar nicht nur Soldaten, auch Frauen und Kinder.“
„Unsinn – Mücken, Vögel, Spinnen – oder noch schlimmer: eine heilige Kuh. Können Sie sich solche Kerle als Soldaten vorstellen? Da lobe ich mir meine Sikhs, Radschputen, Gurkas und Bilhs.“
Radschputen dürfen reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sie haben das Recht, Wein zu trinken, Fleisch zu essen, zu lieben und das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Die Anwältin Krishna darf das nicht. Eine Kaschmiri Brahmanin muß gelassen hinnehmen, als alte Jungfrau zu sterben.Marie-Claude bringt den temperamentvollen Leutnant zum Schweigen. Sie wendet sich an Krishna.

Selbst die modernen Mädchen zeigen mehr Fanatismus gegen Pakistan als Willen zur Gleichberechtigung.

„Soviel ich weiß, ist das Kastensystem verurteilt worden. Von Gandhi, Nehru, von der Kongreßpartei.“
„Was können Gesetze gegen Religion und Sitte ausrichten? Schauen Sie sich unseren Oberkellner an, er muß Brahmane sein.“
„Wieso?“
„Wie sollten Gäste höherer Kasten sonst bedient werden können, ohne unrein zu werden? Es hat sich vieles in Indien geändert. Das Kastensystem ist elastischer geworden – aber nur im Beruf. Zwei Tabus bleiben nach wie vor unantastbar: das Essen und die Ehe. Man setzt sich nicht mit einer tieferen Kaste an einen Tisch – und man heiratet nicht in eine andere Kaste. Ausnahmen zählen nicht.“
Krishna spricht sachlich, gelassen, ohne zu verurteilen oder zu loben. Sie scheint nicht einmal zu bedauern, in ihrem Alter noch keinen Mann gefunden zu haben. Jeder hat seinen vorbestimmten Platz. Sie den ihren. Ihn richtig auszufüllen ist die höchste Pflicht.

In mir dämmert der Verdacht, daß die vielgepriesene indische Weisheit nichts anderes ist als diese stolze Resignation. Die widerspruchslose Hinnahme des überlieferten Weltbildes. Etwa unter dem Motto: Was wir tun, muß gut und richtig sein – wurde es doch von uns erfunden.
Ich frage Krishna: „Und die Liebe? Durchbricht sie nicht manchmal die Schranken der Kasten?“
„Selten. Es ist Aufgabe der Eltern, die Ehepartner ihrer Kinder auszusuchen.“
Jetzt kann ich die indische Selbstbeherrschung nicht mehr mitmachen: „Ihr seid alle verrückt. Krishna, Sie als Anwältin können sich doch nicht irgendeinen Mann unterjubeln lassen. Und wenn Ihr Brahmane nun ein Idiot ist?“
„Regen Sie sich nicht auf“, sagt sie mit nahezu unerträglicher Würde und Gelassenheit. „Der Fall wird sowieso nicht eintreten. Meine Eltern sind nicht reich genug, um es sich leisten zu können, mir einen ebenbürtigen Brahmanen zu kaufen.“
Also bezahlen lassen sich die raren Herren auch noch.

Es lohnt sich, so einen Herrn einmal näher zu betrachten. Viele sind uns über den Weg gelaufen. Einer jedoch scheint uns ein Musterbeispiel zu sein.
„Nennen Sie mich B.C.“, sagt er, als er uns vorgestellt wird. „Das sind meine Initialen. Es klingt vertraulich und hält doch Distanz.“
B.C. ist Brahmane – nicht aus der kleinen Gruppe der Kaschmiri. Er stammt aus dem Pandschab, dem Norden, was auch nicht zu verachten ist. Im Pandschab ist die Hautfarbe heller. Von dort kamen einst die arischen Eroberer und drängten die einheimische, dunkelhäutige Urbevölkerung nach Süden ab. Folglich fühlt sich jeder Nordinder als der direkte Nachfolger der hellfarbigen Herrenrasse und jedem Südinder haushoch überlegen. Ein Brahmane aus dem Norden, selbst ein barfüßiger, würde es seiner Tochter nicht erlauben, einen Brahmanen aus dem Süden zu heiraten. So kommt zum Gefängnis der Kasten auch noch die Barriere zwischen Rassen und Hautschattierungen. Die einzelnen Gruppen werden immer kleiner und der Abstand zwischen ihnen immer größer.

Frühehe – Kindergarten der Erotik

B.C. hatte das Pech, uns gerade im Süden des Landes begleiten zu müssen. Sein Chef, der Präfekt, wollte es nicht verantworten, uns allein durch den Dschungel reisen zu lassen. So wurden wir für eine Woche unzertrennliche Gefährten.
Eines Tages treffen wir zwischen zwei Dörfern eine kleine Karawane. Musikanten an der Spitze. Sieben Wagen, wie man sie aus Wildwestfilmen kennt. Lachende Menschen und zwei Kinder, deren Gesichter wir nicht sehen können. Goldpapier und Blumen hängen vom Kopf bis zur Brust.

Kinderehe – gesetzlich verboten, aber immer wieder arrangiert. Der Junge ist zwölf, das Mädchen acht. Gestern kannten sie sich noch nicht. Viele Inder behaupten, die Kinderehe erhalte das sexuelle Gleichgewicht des Mannes – die Wahl durch die Eltern vermeide das aufreibende, Seele und Studium zerrüttende Flirten im europäischen Stil

B.C.s angeborene Autorität kommt uns zugute. Er hebt die Schleier. Wir entdecken einen zwölfjährigen Jungen und ein achtjähriges Mädchen, jungverheiratet. Die Karawane geleitet die Braut im Triumphzug ins Dorf der Schwiegereltern. Eine Kinderhochzeit – offiziell verboten und doch immer wieder arrangiert. Keineswegs geheim. Was sollen die Behörden gegen alte Sitten ausrichten?
B.C. – ich vergaß zu sagen, daß er ein studierter Mann ist und eine brillante Karriere vor sich hat – entpuppt sich als energische Verfechter der Kinderehe. Zunächst gibt es den jungen Männern die Gelegenheit, sich sexuell zu betätigen, sobald die Drüsen es verlangen. Das ist lebenswichtig in einem Land, wo Jungen und Mädchen kaum miteinander sprechen dürfen. „Es verhütet gefährliche Verdrängungspsychosen“, erklärt B.C. „So bleiben die Männer seelisch gesund.“
„Und das junge Mädchen?“
„Die Frau soll schon früh an ihre Rolle gewöhnt werden: dienen, gehorchen, den Mann verehren wie einen Gott – oder fast wie einen Gott.“
„Mit acht Jahren?“
„Warum nicht? Spielen bei Euch die Kinder vielleicht nicht Doktor und so. …? Verheiratet ist das moralischer, oder nicht?“

Heute ist Dienen die Hauptaufgabe der Frau. Sie muß den Mann wie einen Gott verehren. Selbst in den besten Familien ist es üblich, dem Herrn Gemahl abends die müden Füße und Waden zu massieren


Topfakrobatik als Beweis weiblicher Tüchtigkeit. Indiens Energien verpuffen in sinnlos geworden Bräuchen

B.C. erklärt uns auch die wirtschaftlichen Vorteile am eigenen Beispiel: „Mein Schwiegervater ist ein Idiot. Hätte er auf der Heirat bestanden, als ich noch fünfzehn war, dann hätte ihn der Spaß nur 20 000 Rupien anstatt 80 000 gekostet. Mit zweiundzwanzig war ich bereits viermal so viel wert. Akademiker, Beamter der Regierung mit gesicherter Zukunft. So was hat seinen Preis. Je jünger, desto billiger. Verstehen Sie?“
„Halbwegs.“
„Deshalb sind besonders die Familien mit vielen Töchtern für die Kinderehe – oder wenigstens eine Verlobung im Kindesalter. Denn sie haben große Ausgaben. Also liegen sie auf der Lauer und sagen sich: Schau mal, der Herr Soundso hat nur zwei Söhne. Er hat Geld. Diese Knaben werden was. Laßt uns sie kaufen, solange sie Kinder sind. Wenn die mal Karriere gemacht haben, kosten sie das Fünffache und sind für uns unerschwinglich. – Und es wird verhandelt und gehandelt. – Natürlich gibt es Risiken und Reinfälle. So ein Knabe kann sich als Null entpuppen. Die richtige Nase muß man haben – und die richtigen Tipps. Dafür sorgen Informanten, die man nötigenfalls bezahlt. Vom Koch bis zum Hausarzt.“
Jetzt begreifen wir es. Es muß aufregend sein, wie in einem Wettbüro. Man setzt auf einen Schwiegersohn wie auf ein Pferd. Wenn er das Rennen macht, hat man für billiges Geld einen Unterstaatssekretär eingekauft oder sogar einen Minister. Bleibt er als Buchhalter stecken, hat man eben Pech gehabt, und Gott wollte es nicht anders.

Schwiegerpapa ist immer der Dumme

„Und ich“, fährt B. C. fort, „bin jetzt das Opfer unserer Zollgesetze. Mein Schwiegervater konnte mir nicht einmal den versprochenen Sportwagen geben, weil die Regierung die Einfuhr ausländischer Wagen verboten hat. Ich gehöre zur Sportwagenklasse.“
So gibt es den Chevrolet-Schwiegersohn, den Mercedes-Schwiegersohn, den Ferrari-Jungen.  –  Hier handelt es sich natürlich nur um das Gesellschaftsspiel hoher Kasten, besonders der Brahmanen, jener Menschen, die von Gott berufen sind, anderen Menschen die heiligen Schriften zu erklären, ein beispielhaftes Leben zu führen und auf irdische Güter zu verzichten, um so, unbeschmutzt von Gier und Geld, leichten Schritts ins Nirwana zu wandeln.
B. C. ist eine unerschöpfliche Informationsquelle. Er erklärt uns, daß seine Schwiegereltern Bett und Kost zahlen müssen, wenn sie zu ihm zu Besuch kommen. Und wenn seine Frau ihre Eltern besuchen will, dann muß ihr Herr Vater oder ein Bruder sie gefälligst abholen und die Reise bestreiten. Sie dürfen doch nicht ihr Gesicht verlieren. Und eine Frau allein reisen zu lassen, hat es das in guten Kreisen schon mal gegeben?
Übrigens hat B. C. noch ein gewichtiges Argument für die Kinderehe auf Lager. Liebe darf nie im Spiel sein, und die jungen Ehepartner müssen von den Eltern ausgesucht werden.

Tätowierungen und Zeichnungen magischer Symbole sollen den Körper gegen das Eindringen unheilbringender Geister schützen. Ursprünglich diente der Schmuck dem gleichen Zweck. Heute ist er nur noch eine magische Mauer, vor allem jedoch ein Beweis materieller Sicherheit. Die Frauen haben kein anderes Recht auf Besitz. Ihnen gehört nur das Gold und Silber, das an ihnen hängt

Der Flirt ist ein sinnloser Affentanz

Es liegt doch auf der Hand: Wenn ein Junge nicht zu wählen und zu werben braucht, kann er in Frieden und Harmonie leben. Es gibt hier nicht die aufreibende Konkurrenz, die in Europa die Energien der Jugend auffrißt. Dort müssen junge Männer den Hof machen und sich wie Affen benehmen. Sie müssen zärtlich sein, aufmerksam, herrisch oder verlogen, je nach Laune und Charakter des umworbenen Mädchens. Werben – das Wort allein lässt B.C. erblassen. Hat man schon Männer werben sehen? Ein Mann befiehlt.
Was ist das für eine Zivilisation, die ihre Männer so erniedrigt? Dort müssen Angst und Unsicherheit wie Unkraut in der Seele des Jungen wuchern. Und wenn er dann noch in der Liebe versagt, schleppt er seinen Liebeskater durchs ganze Leben. Das ist Barbarei, Entmannung. Mehr noch: Es lenkt vom Studium ab, vom Streben nach höheren Zielen. Wieviel Zeit wird da für nichts und wieder nichts vergeudet? Ein halbes Leben. Dieser ganze sentimentale Unsinn macht die Männer zu Memmen. Alles Wertvolle geht verloren. Der geistige Funke springt nicht in Gottes Schoß, er wird von den Tränen eines Weibes in den erotischen Dreck gespült. „Das ist bei uns vernünftiger“, schließt B.C. „Die Eltern, die weit mehr Erfahrung haben als wir jungen Leute, legen uns eine Frau in die Arme. Und wenn wir versagen, dann kennt die Frau ihre Pflicht. Sie massiert uns liebevoll die Füße und die Waden. – Nein, nicht umsonst sind wir Gott nähergekommen als irgendein Volk der Erde. Wir verbrauchen unsere Kraft nicht im Kampf der Geschlechter.“
Ich wage nochmals die Frage nach der Liebe.
„Pflicht, mein lieber Herr, das ist unser oberstes Gesetz. Mein Vater hat meine Mutter für fünf Jahre in ihre Familie zurückgeschickt, weil sie ihre Pflichten vernachlässigte.“
„Hat sie ihn betrogen?“
B.C. ist, wie alle Brahmanen, völlig Herr seiner Gefühle und Regung. Er zeigt nicht, wie tief ich ihn jetzt beleidigt habe. Er erklärt nur: „Die Milch war kalt. Jeden Abend um sechs Uhr mußte sie meinem Vater ein Glas warmer Milch bringen. Aber zwei Tage hintereinander war die Milch kalt …“

Die Frauen dieser Welt. Gordian Troeller und Claude Deffarge setzen ihre Serie mit einem Bericht über Indiens Frauen fort
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