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Bernard Görlich

17. März 2017,  Metropolis Kino Hamburg
Rede im Rahmen einer Werkschau zum 100. Geburtstag von Gordian Troeller

Hommage an den „Mann mit dem großen Auge“

Gewiss hätte sich Gordian über das Ansinnen einer Laudatio lustig gemacht und auf seine spöttisch-ironische Weise ausgedrückt, was Goethe an einer Stelle seiner “Maximen und Reflexionen” so zu bedenken gab: „Wen einer lobt, dem stellt er sich gleich.” – Aber womöglich hätte der heute Hundertjährige dem derart Zurechtgewiesenen dann doch eine ernsthafte Aufgabe erteilt: genauer aufzuzeigen, welche Bedeutung dem von ihm geschaffenen Dokumentarfilm-Werk zuzumessen ist, warum es uns gegenwärtig noch erreicht, ja, warum es angesichts gegenwärtiger Medienauseinandersetzung als Korrektiv, als vorbildhaft-kritisches Regulativ gelten kann; kurz: es geht in dieser kleinen Hommage darum, zu verdeutlichen, warum uns Gordian Troeller heute fehlt.

Das soll in Form eines Dekalogs geschehen; d. h. es gilt, in Auseinandersetzung mit den gerade gestellten Fragen zehn Antwortperspektiven zu entfalten:

1.) Gordian Troeller hat immense Lebensenergie in das Projekt investiert, über die Problemlagen der „Dritten Welt“ aufzuklären: Seit Mitte der siebziger Jahre bis zur Jahrtausendwende war er in Sendereihen des Ersten Deutschen Fernsehens präsent. Er ist durch klar- und hellsichtige Diagnosen internationaler Konfliktzonen den vorherrschenden Sichtweisen entgegengetreten, um neues – alternatives – Bewusstsein zu stiften. Die dabei provozierten, oft aufgeregten – im Mainstream des politischen Alltagsbewusstseins verankerten – Reaktionen belegten die Sprengkraft einer eminent engagierten kritischen Haltung, die selbst für das gerügt werden sollte, was sie aufzudecken in der Lage war.

2.) Eine ausschließlich fernsehjournalistische Beurteilung greift entschieden zu kurz, sie kann die Reichweite einer Arbeit nicht erfassen, die politische Neuorientierung zu vermitteln sucht und auf Praxisveränderung drängt. Denn nicht nur diagnostisch, auch prognostisch hat Gordian Troeller die Tendenzen einer zunehmend auseinanderdriftenden Entwicklung von „Dritter“ und „Erster Welt“ präzise erfasst: So wies er einerseits schon vor vier Jahrzehnten der etablierten „Entwicklungshilfe“ nach, lediglich „Verarmungshilfe“ leisten zu können. Gleichzeitig sagte er voraus, dass die Überlebensstrategien jener Verarmten den Etablierten mehr zu schaffen machen würden, als sie zu ahnen vermochten (siehe: Migrationsbewegungen); schließlich, dass Formen der Überlebenspraxis in den ärmeren Ländern wie das „Schattenwirtschaften“ bei fortschreitender Umweltzerstörung und zunehmenden Wohlstandseinbußen rasch auch in einer hochtechnisierten Welt Fuß fassen könnten. Es sind dies Beispiele einer erschreckend genauen Deutung, die Troellers Filme auszeichnet. Ihr Wahrheitsgehalt wird noch immer mit großem Aufwand abgewehrt.

3.) Troellers Analysen, dokumentiert in der Reihe „Im Namen des Fortschritts“, (1974-1985; 22 Filme) untermauern die folgende grundlegende Einsicht: “Unterentwicklung” ist stets Resultat des als Fortschritt getarnten repressiven Anpassungsdrucks, den die ökonomisch mächtigen Handels-„Partner“ auf das jeweilige – zuvor weitgehend autonom gebliebene – Land der Dritten Welt ausüben. Die aufgezwungenen ökonomischen Imperative der Modernisierung und der mit diesen einhergehende Konformismus haben sich im Zeitalter globaler Vereinnahmung zugespitzt. Sie tendieren dazu, jenes kreative Potential der Menschen vollends zu vernichten, auf das die subtilen Situationsdeutungen Troellers immer auch hinzudeuten bestrebt waren.

4.) Die Erforschung der Mechanismen von Macht und Unterdrückung führte Troeller konsequent zur Auseinandersetzung mit der Situation der „Frauen der Welt“ (1979 – 1983; 12 Filme). Hierbei gab er ein Beispiel dafür, wie entscheidend es ist, sich von Normen und Wertvorstellungen der eigenen Kultur zu befreien, und zwar vor allem dort, wo diese den Blick für eigendynamisch entwickelte Lebenswelten verstellen. Troellers scharfe Kritik an patriarchalischer Herrschaft, die sozioökonomische und kulturelle Ungleichheit begründet und befestigt, geht einher mit dem Respekt vor weiblichen Lebensweisen, die ihren Maßstab in sich selbst tragen und in ihrer Widerständigkeit wahrzunehmen wären, wenn nicht kulturelle Hybris die Sicht bestimmte.

5.) Die Reihe „Kinder der Welt“ (1984-1999; 36 Filme) schließlich thematisiert die Lebensperspektive und Leidenssituationen der vermeintlich Schwächsten, aber auch deren phantasiebestimmte Suche nach Auswegen aus dem Elend. In der identifikatorischen Teilhabe am Schicksal der Kinder in der Dritten Welt und aus deren Sicht wird die Brisanz der ungelösten ökonomischen und soziokulturellen Konflikte noch einmal drastisch vor Augen geführt. Troeller zögert auch hier nicht, Schieflagen zu benennen, Situationen soziokultureller Ungerechtigkeit zu analysieren und – nicht zuletzt – unangenehm-unpopuläre Auffassungen zu vertreten: Unvereinbar mit der vorherrschenden Realität sei es, das Massenphänomen der Kinderarbeit einfach per Dekret aus der Welt schaffen zu wollen. Troeller plädiert für soziale Organisation und Kontrolle der Kinderarbeit, die das nackte Überleben ungezählter Menschen garantiere. Er entlarvt die hehren Meinungen, die den Schutz der Kinder einklagen und sich dabei auf der Seite eines universellen Humanismus wähnen, als das, was sie sind: als Verleugnung der realen repressiven Lebensverhältnisse und als Versäumnis, “kindereigene Interessenvertretungen” und damit eine – wie Manfred Liebel schreibt – “Partizipationskultur” zu entwickeln, “die Kindern ermöglicht, an allen sie betreffenden Entscheidungen in maßgeblicher Weise mitzuwirken.” 2

6.) Troellers Filme führen vor, was es heißt, eine interkulturelle Perspektive anzustrengen und durchzuhalten, ohne mit ihr in die Sackgassen vorgestanzter Betrachtungsweisen zu geraten. Sicher hätte er dem Freudschen Hinweis zugestimmt: “Wenn wir nicht klar sehen können, so wollen wir wenigstens die Unklarheiten scharf sehen.”3 Der Zuschauer spürt die ansteckende Neugier und die Sensibilität für das Ausgegrenzte, bisher nicht zur Sprache Gebrachte. Er kann teilhaben am Projekt der Anatomie von Verständnisbarrieren, die – wie Fundamentalismus, Patriarchalismus, Euro- und Ethnozentrismus – den Zugang zur anderen Kultur auf Dauer verstellen. Gerade von einem angemessenen – in der Begegnung, in der Szene verankerten – Zugang aber hängt doch alles ab. – Das teilhabende szenische Verstehen findet in Troellers Methode des Filmens seine Entsprechung: Dieses ist ganz und gar in der jeweiligen Situation, der konkreten Lebensszene, verankert. Eben deshalb wird Troeller von den Anderen als “Mann mit dem großen Auge” wahrgenommen; und es ist berührend, von ihm zu hören, wie sehr er sich anstrengte, den aufrechten Gang aufzugeben und auf den Knien zu filmen, um der Lebenswelt der Kleinen gerecht zu werden. – Was wir hier lernen können: Szenisch-lebenspraktische Anteilnahme fordert den Forscher dazu auf, seine Haltung zum Forschungsgegenstand zu verändern, den Standpunkt der Inter-Subjektivität zu radikalisieren und den Gegenstand vom bloßen Objektstatus beobachtungswissenschaftlicher Distanz zu befreien. Alles kommt darauf an, in der Perspektive lebenspraktischer Teilhabe und in der Sensibilisierung für Spuren des verborgenen Sinns die Fragen neu oder anders zu stellen: es geht nicht mehr darum, zu registrieren, was mit dem Anderen vor sich geht, sondern vielmehr herauszufinden, wie das Verhältnis beschaffen ist, in dem wir dem Anderen begegnen. Es gilt, gemeinsame Aufklärung darüber zu gewinnen, welche Konflikte zur Debatte stehen, die wir mit dem Anderen teilen.

7.) Troellers Arbeiten sind in genau diesem Sinn nicht nur Beispiele für die Möglichkeit, tradierte Meinungsgrenzen und hartnäckige Vorurteile zu überwinden; sie bieten auch entwickelte Modelle an, die neue, alternative Wege des Zugangs zum Anderen anbahnen. Beispiel hierfür ist das von ihm intuitiv entwickelte Medium der „Scherzverwandtschaft“, ein Beziehungs-Spiel, das darauf angelegt ist, Brücken zwischen Positionen zu schlagen, die sich zuvor feindlich-abgrenzend gegenüberstanden. „Worte können Situationen klären“, erläutert Troeller in einem Gespräch, „aber Verhalten nicht ändern“, um das bezeichnete Arrangement am Beispiel eines einschneidenden Erlebnisses im Südsudan zu illustrieren: Mitglieder des Kakua – Stammes hatten den ihnen von Missionaren erteilten Bescheid, „keine richtigen Menschen zu sein, allenfalls höher entwickelte Affen“, so weit verinnerlicht, dass sie zum fremden europäischen Filmteam auch nach gemeinsam überstandenen schwierigen Situationen (wie die Durchquerung eines gefährlichen Flusslaufs, den die Weißen nur überlebten, weil ihnen die Erfahrung der Schwarzen entscheidend half) Abstand hielten und beispielsweise wiederholte Einladungen, doch das Essen gemeinsam einzunehmen, ausschlugen. Troeller schildert, wie der Bann zu brechen war. „Durch Zufall hatten wir die einzige Beziehung hergestellt, die das Minderwertigkeitsbewusstsein aufheben konnte: die ,Scherzverwandtschaft‘. Sie ist in vielen Kulturen üblich. Durch Scherze, Blödeleien und Schabernack werden Situationen geschaffen, in denen niemand sich mehr ernst nimmt oder ernst genommen werden will. Wir nennen sie ,Wilde‘ und ,Neger‘, sie uns ,Besserwisser‘ und ,Imperialisten‘. Alle Vorurteile werden ausgesprochen und direkt auf die Person bezogen. Schon nach wenigen Tagen haben alle diese Vorurteile ihren Sinn verloren. Jeder ist gleich viel wert. Der Einfallsreichtum unserer ,Scherzverwandtschaft‘ wuchs täglich. (…) Sie ist ein Angebot der Freundschaft und jedesmal geht Erleichterung durch die Gruppe, wenn man zurückfrotzelt und damit kundtut, dass die angebotene Verwandtschaft akzeptiert wird.“4 – Der Erkenntniswert dieses Arrangements kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, hält man sich nur die Rat- und Hilflosigkeit in der derzeitigen Auseinandersetzung mit Fremdheit und den Fremden vor Augen. Den Sinn der “Scherzverwandtschaft” bringt auch die folgende (bei Freud zu findende) Bemerkung zum Ausdruck: ”Derjenige, welcher dem Feinde statt des Pfeiles ein Schimpfwort entgegenschleuderte, war der Begründer der Zivilisation”.5

8.) Troellers Dokumentarfilme sind Beispiele für jene von Goethe beschworene “zarte Empirie”6, “die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird”. Troellers Filme stellen die Alternative dar zum derzeit grassierenden Bild- und Wortfetischismus des Infotainments. Sie ermöglichen ein alternatives Sehen, das sich ins Begreifen zu transformieren vermag, weil auch die Sprache jeden marktschreierisch-aufdringlichen Gestus vermeidet. Stattdessen schmiegt sie sich auf subtile Weise der szenischen Perspektive an, ja scheint weitgehend in ihr aufgehoben. – Sprachliche Reflexivität hat dabei vor allem den Sinn, die in der reinen Bildrezeption nicht erfassbaren Zusammenhänge und Hintergründe zu rekonstruieren, zudem Wissensangebote kritisch zu beurteilen und auf ihren Erfahrungsgehalt hin zu überprüfen. Es gehe darum – so Troeller in seiner Ansprache auf dem Saar-Lor-Lux Filmfestival 1994 – “sich gegen den Ansturm des täglich neu fabrizierten Wissens zu wappnen. (…) Ich hingegen versuche – unbeschwert von dem ewig neu angebotenen Wissen – die Welt zu erfahren.”7 Der folgende Gedanke könnte auf die Wahrheitsverdreher der Gegenwart gemünzt sein: “Dabei scheint mir das Gewissen wichtiger als das Wissen. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass Wissen ohne Gewissen nur zerstörerisch wirken kann.“ Und dabei jene schauderhaften Resultate erzeugt, die uns heute in Populismus und Trumpismus begegnen und jeden Sprach-Sinn ad absurdum führen. -Stattdessen hat uns Gordian Troeller ein Beispiel dafür gegeben, wie in der Verbindung von Szene und Sprache Ideologiekritik, Aufklärung einerseits und Emotion, leidenschaftliches Engagement andererseits zusammenwirken. Fundament dieser Verbindung ist die Haltung einer „kritischen Intoleranz“, die sich zur Wehr setzt gegen die existierende und für Gefolgsmassen inszenierte Intoleranz gegen Minderheiten. Denn nicht Intoleranz an sich ist das Gegenüber der Toleranz, sondern Fanatismus, Rassismus, Ethnozentrismus, Frauen- und Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Herabsetzung von Minderheiten aller Art; all das, was ein zivilisiertes Miteinander bedroht und vernichtet. Das heißt: „kritisch-reflektierte“ Intoleranz steht in einem dialektischen Widerspruchsverhältnis zu Toleranz; aus ihr selbst entspringt Intoleranz als Einspruch, und zwar überall dort,wo die Freiheit des Einzelnen inwendig bedroht ist,

wo Menschenwürde und Menschenrechte ausgehöhlt werden,

wo das Recht der Rechte (nach Hannah Arendt, das Recht eines jeden Menschen, sich einem politischen Gemeinwesen zugehörig zu fühlen), das Recht auf Teilhabe also an den lebenspraktischen Vollzügen einer Gesellschaft, abgeschafft werden soll.

9.) Gordian Troeller hatte diese Haltung kritischer Intoleranz verinnerlicht und uns mit ihr mehr als nur Fingerzeige für die Gegenwartsauseinandersetzung gegeben: Man kann den populistischen Macht-Strategen von heute, die Politik nach dem Führer-Gefolgschaftsmodell auszurichten bestrebt sind, nur begegnen in der Haltung der kritischen Intoleranz. Diese darf freilich der Frage nicht ausweichen, wie es möglich ist, dass Menschen in großer Zahl und offensichtlich weitgehend unbewusst gegen ihre eigenen Bedürfnisse handeln und sich in panikartigen Ängsten und verzweifelte Hoffnungen verstricken. Ihnen gilt es vielmehr auf den Grund zu gehen. Und hierzu muss man – wofür Troeller ebenfalls beispielgebend ist die Haltung der intellektuellen Distanz, des immer schon Bescheid-Wissens aufgeben und anerkennen, dass Emotionen Ausdruck lebenspraktischer Bedürfnisse sind, die auf Veränderung der Wirklichkeit und der in ihnen entwickelten Beziehungen drängen. Troeller hat mit großem Recht den jungen Marx zitiert: “Wenn sich die menschlichen Beziehungen nicht ändern, dann fängt die gleiche Scheiße von vorne an.” 8 Aufklärung bleibt ohnmächtig, wenn sie den emotionalen Kern menschlichen Erlebens und Handelns verkennt. – Um es mit den Worten des großen humanistischen Essayisten und Zeitgenossen Troellers, Jean Améry (1912-1978), zu sagen: „Emotionen? Meinetwegen. Wo steht geschrieben, dass Aufklärung emotionslos zu sein hat? Das Gegenteil scheint mir wahr zu sein. Aufklärung kann ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn sie sich mit Leidenschaft ans Werk macht“.9 Gordian Troeller repräsentiert genau diese Haltung des Einspruchs und der Kritik im Horizont einer gelungenen Verbindung von Aufklärung und Emotion; eine Haltung, von deren Durchsetzungskraft in der Gegenwart nicht wenig abhängt.

10.)Schlussbetrachtung: An seinem 100. Geburtstag feiern wir mit Gordian Troeller eine Persönlichkeit, die die Erfahrung des Jahrhunderts der Extreme im eigenen Erleben repräsentiert und die Traumata zum Anlass genommen hat, gegen Herrschaft und Unterdrückung zu kämpfen und Ideologien und Illusionen überall dort zu entlarven, wo sie die in der menschlichen Lebenspraxis verborgenen kreativen Potentiale im Keim zu ersticken drohen. – Es ist aufschlussreich wahrzunehmen, wie sich Gordian im Rückblick auf sein Leben selbst charakterisiert hat: “Ein Glückspilz entdeckt die Welt” – sollte die große Überschrift seiner widerwillig in Angriff genommenen Biographie sein. Wie immer man dies deuten will (und sicher gib es unterschiedliche Deutungsschichten): Gordian hat in dieser Wendung doch sehr klar die Kraftquelle gekennzeichnet, aus der er zu schöpfen vermochte: ein gesunder kreativer Narzissmus, dem er seine Lebensenergie, seine weitgehende Angstlosigkeit verdankt und – nicht zuletzt – auch seinen Humor, der sich ebenso subtil-feinfühlig wie forsch-fordernd zu äußern vermochte.

Gordian Troellers Haltung ist, über den brisanten Gegenstand, an dem sie sich dargestellt hat, hinaus, für uns alle ein Beispiel für das Ringen um Authentizität – kritisches Regulativ in einer Zeit, in der die Anstrengung hierzu mehr und mehr aufgegeben wird und im Getöse der Medienindustrie abhanden zu kommen droht. – Gordian Troeller hat uns gegen Phänomene der Unkultur gewappnet und gezeigt: Die Haltung aktiver-kritischer Intoleranz hat ihren Maßstab in sich; er ist zusammengesetzt

(1) durch einen festzuhaltenden Wahrheitsanspruch, der in unmittelbarem Bezug zur Praxis der Menschen steht,
– (2) durch den ebenso festzuhaltenden Anspruch auf Gerechtigkeit (ohne den, wie Kant sagt, die Welt sinnlos würde) und er ist enthalten
– (3) in der Orientierung an der – nicht anzutastenden und nicht teilbaren – Menschenwürde. Sie ist oberstes Prinzip, das auch ein Recht auf Widerstand zur Konsequenz hat, hier – mit Gordian Troeller – den “kategorischen Imperativ” von Karl Marx zur Geltung bringend (der die Konsequenz des Kantschen ist): „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“10

Zu guter Letzt möchte ich auf den Freund Gordian den Spruch beziehen, den Goethe in seinem Gedichtzyklus “Zusätzliche Gedichte aus dem neuen Divan” (hier: “Einlass”) ersann. Da begehrt der Dichter – wir übersetzen: der Dokumentarfilm-Künstler – Einlass ins Paradies und reagiert auf die Frage nach seinen Verdiensten so:
“Nicht so vieles Federlesen!
Lass mich immer nur herein:
Denn ich bin ein Mensch gewesen
Und das heißt ein Kämpfer sein.”11

Anmerkungen:

  1. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen. Goethe Werke. Jubil.ausg.Bd.6. Frankfurt u. Leipzig 1998. S. 516.
  2. Manfred Liebel, Kinderinteressen. Zwischen Paternalismus und Partizipation. Weinheim und Basel 2015. S. 360.
  3. S. Freud, Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV. S. 155.
  4. Gordian Troeller im Gespräch. In: Kein Respekt vor heiligen Kühen. Gordian Troeller und seine Filme. Hg. v. J. Paschen, U. Spies, D. Ziegert u.a., Bremen 1992. S. 109.
  5. S. Freud, Vortrag. Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. 1893. In: Freud-Studienausg. Bd. VI. S. 22 (Anspielung auf einen Satz von Hughlings Jackson)
  6. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen. a.a.O., S. 500.
  7. Zit. in: Dialogische Erziehung. Nr. 1-2. 2017. (Gordian Troeller zum 100. Geburtstag). S. 60.
  8. Zit. nach: Gordian Troeller (Autor), Ingrid Becker-Ross-Troeller (Hg.), Antifaschist. Anarchist. Journalist. Gordian Troeller berichtet. Eine Autobiographie. Berlin 2009. S. 15.
  9. Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. München 1988 (1977). S. 12.
  10. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung). MEW Bd. 1. S. 385.
  11. J. W. Goethe, Zusätzliche Gedichte aus dem Neuen Divan 1819-1827. In: Goethe Werke (Jubiläumsausg.) a.a.O. Bd. 1. S. 549.
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