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Hochzeit in Andalusien

Stern, Heft 40, 3. Oktober 1959 

In Jerez de la Frontera, der Hochburg des andalusischen Weines, erleben Sternreporter ein Fest der reichen Leute.
„Wo, in Europa, kann man so gut leben wie hier in Spanien.“ Diesen Satz bekamen wir immer dann zu hören, wenn wir mit guten spanischen Bürgern zusammentrafen, die sich gar nicht oder nur wenig um Politik kümmern.
Heute ist wieder so ein Tag, an dem man uns das Loblied des schönen Spanien singt. Wir sind in Madrid in einer eleganten Wohnung des Stadtteils Salamanca. Hier wohnen nur wohlhabende Spanier, ausländische Diplomaten und die mehr oder weniger offiziellen Geliebten, die jeder Spanier haben muß, der etwas auf sich hält und der das nötige Geld hat, sich neben einem teuren Wagen auch dieses nerzbefellte Abzeichen des Reichtums zu leisten.
Villanuevas haben uns zum Tee eingeladen. Herr Villanueva sitzt im Aufsichtsrat einer großen Bank, seine Frau im Vorstand eines Wohltätigkeitsvereins. Wir sitzen hier im Kreise herum, wie bei einem persischen Empfang, die Frauen rechts, die Männer links, und erheben uns alle jedes Mal wie ein Mann, wenn der Diener einen neuen Gast anmeldet. Dienstmädchen mit Spitzenhäubchen, fleckenlosen Schürzen und weißen Handschuhen servieren Tee und Kuchen
„Wo, in Europa, gibt es noch so stilbewußte und so billige Dienstboten wie bei uns in Spanien?“ – Frau Villanueva wendet sich zu Claude. „In Frankreich und Deutschland werdet ihr nicht mehr für so wenig Geld so großartig bedient.“
„Sicher nicht, aber in Italien …“
„Was heißt hier Italien“, fällt ihre Nachbarin, Frau Garcia, ihr ins Wort. „Dort gehören die Dienstboten schon mit 14 Jahren zur kommunistischen Partei. Den Feind im eigenen Haus ernähren, das ist es, was die Italiener tun.
Die Frauen rücken zusammen. Jede will an diesem interessanten Thema beteiligt sein. Claude kommt gar nicht mehr zu Wort.
„Ich war letztes Jahr bei Freunden in Hannover. Na, das hätte dir erleben sollen“, seufzt eine junge Frau, die so blond ist, daß ich sie zunächst für eine Schwedin gehalten habe. – „Abends um acht Uhr war das Mädchen frei. Sie ging aus, mit wem sie wollte. Hatte ihr eigenes Zimmer mit Radio und kleiner Lampe am Bett, wo sie Romane las, während meine Freundin selbst aufgeräumte und spülte. Da hätte man die ganze Nacht klingeln können, das Dienstmädchen wäre nie aufgestanden. Sie hätte gekündigt. Und so was kostet 150 DM im Monat.“
„Wie viel bezahlt man hier?“ fragt Claude.
„Ich zahle 350 Peseten (25 DM) mit“, sagt die hübsche Blonde.
„Ich 400 Peseten (28,70 DM) ohne“, fügt Frau Garcia hinzu.
„Meine Köchin erhält 400 Peseten mit, die beiden Dienstmädchen in 350 Peseten ohne“, erklärt Frau Villanueva.
„Mit oder ohne Verpflegung?“ will Claude wissen.
„Aber nein, verpflegt werden sie natürlich im Hause. Mit oder ohne heißt: mit oder ohne Erlaubnis, beim Einkaufen unauffällig zu schwindeln. Wenn eine Köchin ‚mit‘ angestellt wird, hat sie das Recht, die Preise der Lebensmittel um einige Prozent zu erhöhen.“
„Sie sehen, wie liberal und großzügig wir sind“, wirft sich eine zierliche Person ins Gespräch, die so hübsch ist, daß die ganze Männerreihe nun auch endgültig den Frauen zuhört. – „Wir zahlen keine Krankenkassenbeiträge, dafür aber schicken wir unsere Dienstboten zu den besten Ärzten, wenn sie krank sind. Meine Kammerzofe, ein 27 Jahre altes Mädchen, das immer noch nicht verheiratet ist, hatte sexuelle Zwangsvorstellungen, die sie fast arbeitsunfähig machten. Ich schickte sie zum besten Psychiater, und jetzt kann sie wieder arbeiten, ohne an dumme Dinge zu denken. Sie ist so hübsch, daß man ihr helfen muß, dem armen Ding.“
„Da bin ich aber gar nicht ihrer Meinung“, ruft Frau Garcia. – „Hübsch darf ein Dienstmädchen nie sein. Bei der schlechten Moral der niederen Klassen sind hübsche Mädchen eine ständige Gefahr für unsere Söhne.“
Mein Nachbar, ein junger Rechtsanwalt, gibt mir einen kleinen Rippenstoß und flüstert: „Bei meiner Mutter gab es nur hübsche Dienstmädchen, das kann ich Ihnen versichern.“

Hundert Polizisten müssen eingesetzt werden, um die Braut von der Neugier des Volkes zu schützen. Ana-Maria Bohórquez, die Tochter des großen Stierzüchters heiratet Don Jaime Domeqc Ibarra, den Sohn der Sherrydynastie. Millionen stoßen zu Millionen. Als Ana-Maria zur Kirche fährt, jubeln Tausende ihr zu
Ein Bischof gibt den Trausegen. Es ist 19 Uhr. Früher wird im Sommer nicht geheiratet. Alles, was in Andalusien einen Namen hat, ist heute hier. Zwischen der Kirche und dem Landsitz der Bohórquez, auf 14 Kilometer, fahren 800 festlich erleuchtete Wagen die eleganten Gäste zum nächtlichen Hochzeitsschmaus

Zweitausend Gäste waren geladen. Kaviar, Sekt und ganze, am Spieß gebratene Ochsen bedeckten die Tische, auf denen wertvolles Silber glänzte

Zigeuner aus Sevilla tanzten die ganze Nacht in der Privat-Arena, in der man tagsüber die Kampflust der Kühe erprobt, die zur Stierzucht ausgewählt werden. In den Gärten spielten vier Jazzkapellen zum Tanz. Die riesige Hochzeitstorte wurde von einem niedlichen Esel auf einem vergoldeten Wagen herangefahren und mit einem Schwert angeschnitten. Die Damen hatten ihre Kleider aus Paris, die Herren ihre Anzüge aus London. Als der Morgen graute, wurden kleine Stiere in die Arena gelassen, und die Mutigsten, die noch auf den Beinen stehen konnte, wurden schnell nüchtern.


„Wissen Sie, wer diese bezaubernde Frau ist, die von Liberalismus spricht und ihre Schönheit so großzügig zur Schau trägt?“ frage ich ihn ebenso leise.
„Das ist Carmina S., hinter der wir alle wie besessen her sind, seit sie von ihrem Mann getrennt lebt und die Scheidung beantragt hat. Sie wissen, daß es hier fast unmöglich ist, sich scheiden zu lassen, da es die zivile Ehe nicht gibt, sondern nur die kirchliche Trauung Gültigkeit hat. Aber Carmina hat es fertiggebracht, oder besser gesagt, sie ist auf dem einzig richtigen Weg dazu. Seit der Trennung von ihrem Mann, seit mehr als zwei Jahren, wohnt bei ihr ein Priester zu Gast, der über ihren lauteren Lebenswandel wacht und höheren Orts darüber zu berichten hat. Sie lebt also wie im Kloster unter ständiger Kontrolle. Nur so wird sie ihre Scheidung durchsetzen können. Selbst wenn sie Besuch empfängt, sitzt der Priester dabei. Hierher kann sie ihn natürlich nicht mitbringen. Deshalb tobt sie sich auch aus, indem sie über die sexuellen Angstzustände ihres Dienstmädchen spricht, die wahrscheinlich ihre eigenen sind. – Aber hören Sie selbst.“
„Diese Amerikaner, diese unmoralischen Proleten“, rief Carmina mit leidenschaftlicher Stimme. „Das einzige, was ich Franco vorwerfe, ist, daß er diesen Amerikanern erlaubt hat, hier militärische Stützpunkte zu errichten und sich breitzumachen. Wenn ich bedenke, daß diese Menschen die Superprodukte der liberalen Demokratie sind, daß es bei uns Leute gibt, die auch so leben wollen, daß so vielleicht einmal unsere Zukunft aussieht, dann überläuft mich ein kalter Schauer.“ – Sie fröstelt wirklich.
„Haben Sie gesehen, wie diese Amerikaner, diese Neger, Weißen und Mulatten, in Korea leben?“
„In Korea?“ fragt Claude ungläubig. „Was hat das mit Spanien zu tun?“
Ein Chor von Stimmen erklärt uns, daß ‚Korea‘ der Name ist, den die Spanier dem eleganten Stadtviertel gegeben haben, in dem viele Amerikaner leben, die in Torrejon, dem Atombomberstützpunkt in der Nähe von Madrid, Dienst tun. ‚Korea‘, das liegt an der prächtigen Avenue des General Franco, das liegt zwischen den Straßen Peron und Salazar, wo die wundervollen Häuser stehen, auf die ganz Spanien stolz ist. Dort gibt es ganze Häuserblocks, in denen nur Amerikaner leben.
„Und wie sie dort leben“, stöhnt Frau Garcia. „Sie verbringen ihre Sonntage, indem sie selbst ihre Autos waschen und reparieren. Sie fahren riesige Wagen und haben nicht einmal einen Chauffeur.“ – Sie erstickt fast vor Lachen. „Wenn ich an die Herzogin von V. denke, die immer einen uniformierten Chauffeur hat, selbst wenn sie sich nur einen Volkswagen leisten kann.“
„Das ist noch gar nichts“, unterbricht Frau Villanueva. „Die amerikanischen Frauen sitzen wie arme Leute mit ihren Kindern vor der Tür, anstatt diese Aufgabe dem Kindermädchen zu überlassen. Überhaupt, diese amerikanischen Kinder sind so schlecht erzogen. Selbst die Mädchen tragen diese blauen Hosen – wie sagt man noch – diese Bluejeans, und spielen vor den Häusern wie Gassenjungen. Nie würde ich meinen Kindern erlauben, mit Amerikanern zu verkehren.“
„Und die Moral, die Moral“, ruft Carmina mit einem herausfordernden Blick gegen die Männerreihe. „Habt ihr gehört, daß ein amerikanischer Neger ein spanisches Mädchen, das dumm genug war, seine Freundin zu werden, mit Bissen getötet und dann förmlich zerfleischt hat wie eine Urwaldbestie?“
Plötzlich hört man zum ersten Mal eine Männerstimme. Der Admiral a. D. Don José P. y S. strafft seine gebeugte Gestalt: „Vergessen Sie bitte nicht, daß wir Amerika entdeckt haben. Wir Spanier. Warum sollten wir uns aufregen über die Nachkommen ehemaliger Sträflinge und Abenteurer. Wir, die stolzeste Nation der Erde. Was kann uns schon eine Handvoll hergelaufener Soldaten anhaben, die sich benehmen wie unser letzter Pöbel? Geld haben sie, das ist alles. Das gute Blut haben wir.“
„Taratata …“ sagt mein Nachbar leise vor sich hin. Aber er scheint der einzige, den diese Worte unberührt gelassen haben. Die andern sind sichtlich größer und bedeutender geworden. Oder bilde ich mir das ein? Jedenfalls fühle ich mich so winzig, so ganz und gar nicht mit dem richtigen Blut gefüllt, daß ich nur noch einen Gedanken habe: verschwinden.

In den Städten Spaniens sind diese Szenen nicht selten: Männer starren Frauen herausfordernd an oder bombardieren sie mit dreisten Bemerkungen. Die stolze, selbstbewusßte Spanierin reagiert nicht, und doch ist sie beglückt über diesen Tribut, den man ihrer Schönheit zollt
Im Park wird genauso viel geflirtet wie bei uns. Hier sitzen zwar noch Mutter und Schwester dabei, um den guten Ruf zu wahren. Aber wenn der Nachbar nicht mehr hinsieht, blickt auch die Familie weg. Die Fassade wird langsam brüchig
In der Bar bricht die moralische Fassade endgültig zusammen. Dort legt der Spanier mit seiner Jacke auch den Zwang alter Überlieferungen ab. In den Kneipen wird getrunken, geflirtet, gesungen. In den eleganten Nachtlokalen geht es weniger laut her, dafür aber ebenso ungebunden

Es wird Nacht in Madrid

Die erste kühle Abendbrise schlägt uns wohltuend entgegen. Es ist die schönste Stunde Madrids. Nach der unerträglichen Hitze des Tages öffnen sich jetzt die Fenster, um die kühle Luft in die Zimmer zu lassen und sie dort für die Nacht aufzuspeichern, um endlich aufzuatmen.
Im eleganten Stadtteil Salamanca hat diese Stunde einen ganz besonderen Charme. Es ist die Stunde der Liebe, des Flirts, des Rummels und tausend süßer Komplikationen. Vielbeschäftigte Herren lassen ihre Arbeit im Stich, mag sie auch noch so dringend sein. Sie holen ein paarmal tief Luft, schauen nach links, nach rechts, verschwinden in einer Espressobar, stürzen wieder heraus, fahren einige hundert Meter mit dem Wagen, schlendern nachlässig zweimal um den gleichen Häuserblock, stecken sich eine Zigarette an, wobei sie nochmal eingehend die Straße überprüfen, und verschwinden dann eiligst in einem Haus, wo der Portier bereits die Tür zum Fahrstuhl offen hält. Sie gehen zu ihrer Geliebten.
Die Geliebte gehört seit Jahrhunderten zur spanischen Sittengeschichte, wie Don Juan und die Inquisition. Sie ist die Schlüsselfigur von unzähligen Theaterstücken, denen viele Generationen begeistert zujubelten. Franco aber will ein „sauberes“ Spanien. Das schien einfach. Seine Zensoren brauchten sie nur von der Bühne zu streichen. Und sie taten es. Trotzdem spielt sie im Leben der Spanier nach wie vor eine der großen Rollen. Selbst die Kirche duldet sie schweigend, denn sie fängt die Verirrungen eines temperamentvollen Volkes ab und schützt daher Familie und Töchter.
Natürlich kommt eine Geliebte selten aus gutem Hause. Trotzdem hat sie ihren genauen Platz in der Gesellschaft, um den sie viele beneiden. Sie hat eine schöne Wohnung mit Dienstmädchen und Badezimmer. Ihre Mutter darf bei ihr wohnen. Sie erhält ein monatliches Wirtschaftsgeld und hat ein fast traditionelles Recht, drei Stunden am Tag die Gegenwart ihres Gönners zu fordern.

Lange dauert die Verlobungszeit in Andalusien. Man muß warten, oft sechs bis acht Jahre warten, bis man das Geld für eine standesgemäße Trauung zusammen hat. Bis dahin sieht das Mädchen ihren Verlobten nur in Begleitung oder durch diese schützenden eisernen Gitter

Kurz und bündig hält es dagegen die Jugend der unteren Klassen, selbst in Andalusiern. In den Städten wackelt die Moral schon seit Jahren in allen sozialen Schichten. Die jungen Spanier wollen nicht mehr warten. Sie haben den Flirt entdeckt, das Spiel, das nicht verpflichtet

Flamenco, Rhythmus, Heiterkeit sind die traditionellen Formen andalusischer Koketterie und Erotik. Selbst die Ärmsten finden dabei ihr Lächeln wieder.

In den Städten (unten) wird heute alles nüchterner. Hier zieht der europäische Alltag ein. Flüchtige Begegnungen, galante Abenteuer, soll Daten und Teenager im Park gehören heute, wie bei uns, zum Leben der spanischen Städte

In Madrid gibt es elegante Lokale, in die man mit seiner Familie oder mit seiner Frau geht. Es gibt ebenso elegante Lokale, in die man nur seine Geliebte führt. So ist alles schön aufgeteilt zwischen Gut und Böse, Pflicht, Moral und Vergnügen. Aber im Grunde haben Francos Zensoren, indem sie die Geliebte aus dem Theater verdrängten, nur eine unaufhaltsame Umwälzung der spanischen Tradition um einige Jahre vorausgenommen. Die Geliebte stirbt langsam eines natürlichen Todes. Heute ist sie nur noch ein Überbleibsel der „guten alten Zeit“, in der die Werte schön abgestuft und die Probleme vereinfacht waren. Die neuen Generationen werden sie nicht mehr brauchen, weil sie tastend versuchen, so zu leben wie unsere Jugend, indem sie ihre Ängste und Wünsche, ihre Sehnsüchte und Qualen unter sich ausleben.
Dieser Riß durch die moralische Fassade Spaniens geht natürlich nicht ohne Widersprüche oder dunkle Irrwege. So sieht man Mädchen in Blue Jeans, die sich wie Herzoginnen benehmen, oder junge Damen in sittenvoller Kleidung, die den tollsten Rock’Roll-Fans den Rang ablaufen. Sie versuchen ein Leben zu führen, zu dem sie weder innerlich bereit noch äußerlich berechtigt sind, und geraten in eine Psychose, aus der sie sich nur selbst befreien können, weil ihnen weder Kirche noch Staat noch Erziehung eine helfende Hand reichen. Die beherrschende Tendenz ist heute noch: altspanische, stolze Haltung und vorsichtige Forschungsreisen in die Welt des offiziell Verbotenen.
Der Tummelplatz dieser jungen Menschen liegt auch im Stadtteil Salamanca. Ihre bevorzugten Straßen sind Goya und Serrano. Hier bummeln sie jeden Abend peinlich genau von 7 bis 9 und sonntags nach der Messe.
Nervös wie eine Herde junger Füllen, die ausbrechen will, so ziehen sie an uns vorbei. Sie wittern förmlich unser übermäßiges Interesse; sie wollen in ihrer Welt nicht beobachtet werden, und jedesmal, wenn wir die Kamera heben, drehen sie sich erschrocken um.
Ich kann zwar nicht leugnen, daß der Anblick so vieler hübscher Mädchen mich begeisterte, und ich bereit war, stundenlang die Kamera umsonst zu zücken, doch als ich das zwölftemal – aus rein beruflichen Gründen wohlverstanden – hinter demselben Teenager hergelaufen war, begann ich mich angesichts meines großen Eifers zu fragen, ob ich bei allen Frauen oder Generalen den gleichen Ehrgeiz an den Tag gelegt hätte. Die Antwort war: nein. Also nehme ich Claude bei der Hand, und wir setzen uns ins Café Roma, wo es zwar auch noch von hübschen Frauen wimmelt, wo aber Gott sei Dank das Licht so schlecht ist, daß ich keine Fotos mehr machen kann.
„Olà, hombre“, Carlos, der Rechtsanwalt, der mich bei Villanuevas so freimütig belehrte, schlägt mir auf den Rücken. Er setzt sich zu uns. „Wie geht’ s? Habt ihr was dazugelernt?“
„Gelernt habe ich, das spanische Volk mehr denn je zu lieben, es dafür aber umso weniger zu beneiden. Denn wer könnte mit all diesen Problemen fertig werden, die ihr Hals über Kopf lösen müßt, weil einige Herren es aus politischen Gründen vorgezogen haben, euch für Jahrzehnte von der Umwelt abzuschließen und euch ein Leben vorzugaukeln, zu dem alle Voraussetzungen fehlen.“
„Du hast recht, Gordian“, sagt er mit einem traurigen Lächeln. „Wir müssen vor allem lernen, aus dem hohlen Begriff der ‚Spanier‘ herauszukriechen und so zu leben, wie wir wirklich sind.“
Ich deute in eine Ecke des Cafés, wo ein Pärchen sich zögernd küßt.
„Es kracht überall in euren moralischen Fugen. Ich kenne das Café Roma nicht mehr wieder. 1948 wurde hier nun über Politik gesprochen.“
„Was du hier siehst, ist gar nichts“, erwiderte er, „das ist eine normale, gesunde Entwicklung, die selbst Franco weder aufhalten noch vertuschen kann. Er kann doch nicht auch noch die Verliebten verhafteten, weil ihr Bild nicht in sein Spanien paßt. Wir haben zu unserer Schande erfahren, was geschieht, wenn man durch Gesetz die Wirklichkeit in Traumland verwandeln will. Er zögert einen Augenblick und blickt auf Claude. „Aber das kann ich nur dir allein zeigen. Du weißt, daß Franco die Prostitution seit 1956 verboten hat. Wenn du die Folgen kennenlernen willst, dann heute Nacht um zwei Uhr, ohne Claude, auf den Plaza Sankt Ana.“
Ich bin pünktlich da. Carlos setzt sich zu mir in den Wagen. Junge Männer mit schmalen Hüften und zu engen Hosen stehen in kleinen Gruppen um den Platz. Einige sitzen auf den Caféterrassen; sie tragen rote Hemden und schwarze Lederjacken. Andere lungern nachlässig in den Wirtschaftstüren herum. Als wir langsam mit dem Wagen auf dem Platz fahren, beginnt ein eigenartiges Ballett. Lautlos kommen die Gestalten näher. Sie stellen sich auf, als ob sie Toreros wären und den Wagen, wie einen Stier, gefährlich nah an sich vorbeifahren lassen wollen. Mit ihren Händen streichen sie lässig über die Motorhaube und Türen. Ich schaue in Augen, die bitten, versprechen, fragen, herausfordern. Unwillkürlich gebe ich Gas. Da werden die Türen aufgerissen, und bevor wir es verhindern können, sitzen zwei junge Männer, fast noch Knaben, hinter uns im Auto.
Wir versuchen ihnen zu erklären, daß wir recht normale Menschen sind und gern allein gelassen werden möchten. Sie werden vulgär, nennen Preise. Nur mit Mühe werden wir sie wieder los. „Hiervon gibt es Tausende in Madrid“, sagt Carlos. „Soll ich dir andere Plätze zeigen?“
„Nein, Carlos, danke, für heute habe ich genug hinter die Fassade geblickt.“

Vor einigen Jahren wäre dieses Bild noch ebenso undenkbar gewesen wie die Vorstellung, daß dieses hübsche junge Mädchen ganz allein mit ihrem Freund zum Baden oder zum Picknick ins Grüne fährt

Lesen Sie im nächsten Heft:
Blick hinter die Fassade der spanischen Wirtschaft

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