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Frankreichs Frauen lieben anders

Stern, Heft 51, 20. Dezember 1964

Orly, der Flughafen von Paris, ist der Stolz der Franzosen. Alles glitzert. Und es riecht nach Paris. Nur die Zollbeamten haben heute keinen guten Tag. Sie befehlen mehr als sie bitten.
„Haben sie etwas zu verzollen?“
„Nein.“
„Machen Sie mal auf.“
Der amerikanische Fluggast blickt mich hilfesuchend an. Er kann kein Französisch, und ich übersetze.
„Höflich sind die auch nicht“, murmelt er und schließt seinen Koffer auf.
„Was ist das?“ fragt der Zöllner und deutet auf eine Reihe blauer Schachteln, die am linken Rand des Koffers säuberlich aufgereiht stehen.
„Well“, meint der Herr mit einem verlegenen Lächeln, „das ist etwas ganz Neues, um keine Babys zu bekommen.“
„Beschlagnahmt.“
„Was?“
„Einfuhr verboten.“
„In Paris? Im Land der Liebe? Der ist wohl nicht ganz dicht. Glauben Sie, ich sei nach Paris gekommen, um den Eiffelturm zu besteigen? Sagen Sie ihm, daß ich protestiere.“
„Der soll keine Geschichten machen“, sagt der Beamte und bittet mich, dem aufgebrachten Amerikaner beim Ausfüllen der Papiere behilflich zu sein.

Nach zehn Minuten gehen wir zusammen durch die Haupthalle des Flughafens. Die Augen meines Bekannten irren wütend durchs Gewühl.
„Und mies sind die Weiber hier auch noch“, flucht er. „Ungewaschen wahrscheinlich. Diese Haare, schauen Sie sich doch bloß die Haare. Wo ist die französische Eleganz? Ich werd` verrückt. Wer hat das Märchen von den hübschen Pariserinnen nur in die Welt gesetzt?“

Das haben sich schon viele gefragt. Die Französin ist weder elegant noch schön. Sie hat nur „ce quelque chose“, dieses gewisse Etwas, das vielen anderen Frauen fehlt und sie neidisch macht.
„Wissen Sie was?“ brüllt er mich jetzt an. „Ich bin fast froh, daß man mir die verfluchten Dinger beschlagnahmt hat.“
„Warum haben Sie auch gleich hundert mitgebracht?“
Ich scheine ihn beleidigt zu haben. „Ich will genau einen Monat in Paris bleiben“, sagt er mit Nachdruck. „Das sind dreißig Tage. Stimmt´s? Und wenn Sie dreißig mit drei multiplizieren, auf welche Zahl kommen Sie dann?“

Wer ist der Spielverderber?

„Auf neunzig“, sage ich brav wie in der Schule, ohne jedoch vor Bewunderung in die Knie zu gehen. Mit der Prahlsucht der Männer ist es ähnlich wie mit dem „schlechten“ Ruf der Französinnen: Es sind Wunschträume. Für alle, die leicht lieben wollen, ist Paris ein hartes Pflaster. Es sei denn, sie begnügen sich mit jenen Touristenvierteln, aus denen der Ruf des Pariser Vergnügens stammt.

Wenn man gestern noch in New York war und heute durch Paris bummelt, wird man den Eindruck nicht los, aus einer anderen Welt zu kommen. Drüben sind Eleganz und gutes Benehmen die Abzeichen weiblicher Würde, und ein breites Lächeln ölt den Umgang mit dem Nächsten. Hier pfeift man auf die Firma. Man lächelt nur, wenn es Spaß macht, und schreit sich wütend an, auch wenn es nicht sein muß.

Eben hatte ich einen jungen Mann brüllen hören. Er stand vor einem Zeitungskiosk. Ganz dicht hinter einem Mädchen. Wahrscheinlich war er ihr ein wenig zu nah gekommen. Jedenfalls hatte sie ihren Stöckelabsatz auf seinen Schuh gesetzt und war dann, mit einer kurzen Drehung, stolz davongegangen.

Und jetzt geht es schon wieder los. Ein Mann manövriert sein Auto so ungeschickt, daß er einem anderen Wagen den Weg versperrt. Eine Frau steigt aus, stürzt auf den Fahrer zu, reißt die Tür auf, und dann – aufrecht, hochmütig, gelassen:
„Ach so – ein Mann. Hatt` ich mir doch gedacht. Der Herr Sultan kann mit dem kleinen Spielzeug wohl nicht recht umgehen? Soll ich vielleicht helfen?“
Bevor der Mann auch nur Luft holen kann, schlägt sie die Tür wieder zu und schreitet zu ihrem Wagen zurück.


„Hé – Madame“, rufe ich. „Nur eine Sekunde – bitte…“
In zwei Sätzen erkläre ich, welche Reportage ich mache, und bitte sie, mir den Auftritt zu erklären.
„Ach so, einer von der Presse.“ Sie blickt mich herausfordernd an. „Was tun Sie, wenn eine Frau schlecht Auto fährt? Sie fluchen auf die Weiber und wünschen sie alle zum Teufel. Jeder Mann tut das. Wenn aber so ein Kerl die Gänge verwechselt und Gas gibt wie ein Stier, dann fällt es keinem ein, auf die Männer zu schimpfen. Oder?“
Ich muß ihr leider recht geben, und triumphierend fährt sie fort: „Ich verpasse keine Gelegenheit, es ihnen heimzuzahlen. Diese arroganten Großmäuler. Und ich bin nicht die einzige. Darauf können Sie Gift nehmen.“
„Aber warum nannten Sie ihn einen Sultan?“
„Sie kommen wohl vom Mond. Sie wissen nicht, was ein Sultan ist? Diese fetten Schweine aus der Türkei, die sich Harems hielten.“
Ich gebe zu bedenken, daß der Herr im Auto zwar einen koketten Schnurrbart trägt und sogar ein wenig dicklich ist, sonst aber sehr französisch aussieht.
„Das ist es ja gerade“, ruft sie ernst wie ein Trauzeuge. „Heute will jeder sich ein paar Frauen halten. Um anzugeben. So wie die Reichen sich Rennpferde halten. Früher gab es das natürlich auch. Aber nur für die dicken Brieftaschen. So ein paar Damen gaben den Herren den nötigen Glanz. Heute will auch Piefke dabei sein. Weil er ein paar Franken mehr verdient. Aber ohne uns. Wir gehen auf die Barrikaden. Haben der Herr Sultan sonst noch eine Frage?“
„Hé – Moment mal…“
Sie lacht, steigt ein und fragt: „Kennen Sie einen Mann, der kein Sultan sein möchte?“
„Nein – aber leider wollt ihr keine Haremsdamen werden. Also wer ist der Spielverderber? Ihr oder wir?“
„C`est l`amour“, ruft sie und rast davon.

Bei Maurice, meiner alten Stammkneipe, sitzen nur Paare. Weiße, schwarze, gemischte. Ein pechschwarzer Afrikaner küßt ungeniert seine goldblonde Partnerin. Ihr scheint es zu gefallen, wenn auch der Wirt mir mit dem Glas Wein ein höhnisches Grinsen über die Theke schiebt.

„Die glauben, Neger wären besser“, flüstert er. „Das wird direkt zur Seuche. Abends habe ich nur noch gemischte Kundschaft. Und blutjunge Dinger…“

Der Kuß dauert immer noch. Der Wirt blickt auf die Uhr.

„Schon drei Minuten. Ich stoppe immer. Der längste hat elf Minuten gedauert. Ich bin weiß Gott nicht prüde. Aber so kann das nicht weitergehen.“

General de Gaulle scheint der gleichen Meinung zu sein. Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit sollen verboten werden. Früher gingen Bildbände mit sich küssenden Pärchen durch die ganze Welt und weckten Sehnsucht nach dem freien Paris. Heute scheint diese Freiheit nicht mehr zu Frankreichs neuer Würde zu passen. Tante Yvonne, wie man Frau de Gaulle hier nennt, soll die treibende Kraft hinter dieser Säuberungswelle sein. Sie geht täglich zur Messe und hält auf strenge Sitten. Frankreichs moralischer Ruf soll der politischen Größe entsprechen. So wurde selbst Ministerpräsident Pompidou getadelt, als er auf einem Bankett in Schweden Juliette Greco und Françoise Sagan eingeladen hatte. Sie passen nicht mehr zum offiziellen Bild der französischen Frau.

Und dabei gelten gerade sie – Jeanne Moreau und Brigitte Bardot, als Vertreterinnen des neuen Frauentyps, der in Frankreich geradezu Schule gemacht hat.

Ihre Devise heißt: wählen, wechseln – aber lieben. Warum sollte die Initiative ein Vorrecht des Mannes sein? „Sag, liebst du mich wirklich?“ – dieses bange Bitten um das Krähen eines Hahnes mag den dummen Gänsen genügen, die ohnehin nur aus zweiter Hand lieben können, weil Soraya, Margaret und tausend rosarote Märchen das eigene Erleben abgelöst haben. Eine echte Frau hat es nicht nötig, ihr Innenleben dankend aus den Händen des Mannes zu empfangen. Das Betteln um seelische Almosen ist vorbei. – So will es die neue Welle.

Sie wehrt sich energisch gegen den Vorwurf der Frivolität. Man hopst keineswegs von einem zum anderen dem kleinen Vergnügen nach. Im Gegenteil. Man will lieben. So ehrlich und genußvoll wie möglich. Und deshalb auch jedesmal neu – wenn man neu liebt.

Von den Männern werden diese Frauen natürlich gehaßt. Wenn der Mann ebenso genommen und weggeworfen wird, wie er es mit Frauen zu tun pflegt, dann reißt man an den Sporen seines Hahnenstolzes, und er erfindet plötzlich die Moral, um seine Eitelkeit zu tarnen.

„Wenn das so weitergeht, werden wir zu kläglichen Weibern“, gestand mit ein sichtlich abgearbeiteter Ingenieur. „Ich habe eine großartige Freundin. Ich liebe sie. Das dauert schon zwei Jahre. Aber zu welchem Preis. Glaubst du, ich könnte abends einfach Pantoffeln anziehen und mich ausruhen? Nach einem Tag Arbeit und zwei Stunden Verkehrsgewühl sind wir Männer heute doch alle nur noch müde Krieger. Nein. Ich muß permanent dasein. Verstehst du. Innerlich dasein. Sonst geht bei ihr das Licht aus, und sie haut einfach ab.“

Brigitte Bardot, Juliette Gréco, Jeanne Moreau werden ebenso begehrt wie gehaßt. Männer hassen sie, weil sie zu jenem neuen Frauentyp gehören, der nicht mehr Spielzeug des Mannes sein will, sondern selber wählt und verwirft

Stümperei – kein Merkmal der Ehrbarkeit

Ich treffe auch seine Freundin. Sie heißt Claire und führt einen Antiquitätenladen. Mit dem kindlichen Ernst, mit dem viele Französinnen von der Liebe sprechen, sagt sie:

„Ja, die Männer gehen am Stock. Die können sich an den Wandel unserer Rolle noch nicht gewöhnen. Die Zeit ist vorbei, wo wir nur die körperliche Liebe hatten, um einen Mann zu halten.“

„Moment mal. Die Kinder, sind die vielleicht kein Band?“

„Wir reden im Augenblick nicht von der Ehe. Es geht um die Liebe. Da gab es für die Frau kaum eine andere Gewißheit ihrer Macht als ihren Körper. Warum glauben Sie wohl, daß wir auf diesem Gebiet so ein beträchtliches Können entwickelt haben?“

„Sollte der zweifelhafte Ruf der Französin daher kommen?“

„Natürlich“, sagt Claire. „Sexuelle Stümperei galt hier nie als ein Zeichen der Ehrbarkeit. Das ist auch so geblieben. Nur hat die Sexualität eine andere Bedeutung erhalten. Und wissen Sie, warum? Weil wir freier sind. Jawohl. Die Männer fühlen sich um so mehr an uns gebunden, je leichter sie uns verlieren können.“

Das ist alles recht schön gesagt. Aber irgendwie scheint diese Erklärung zu hinken. Wie konnten die „Sultane“ in diesem Paradies weiblicher Gleichheit und männlicher Abdankung Fuß fassen?

„Weil bei weitem nicht alle Frauen frei sein wollen“, meint sie. „Und die Herren nutzen das geschickt aus. Es ist doch so bequem, ein paar Ruhepunkte zu haben, wo man verwöhnt wird, weil man das Geld mitbringt oder bei der Karriere ein wenig nachhelfen kann. Und für die Eitelkeit der Männer sind mehrere Frauen natürlich besser als eine – sie strengen physisch auch viel weniger an.“

Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Die Französinnen bringen es immer wieder fertig, mir Rätsel aufzugeben. Warum fünf Frauen weniger anstrengend sein sollen als eine einzige, will mir beim besten Willen nicht einleuchten.

„Aber das weiß doch jeder“, meint sie, als spräche sie vom Wetter. „Ausgehaltene Mädchen, die nicht lieben, stellen weniger Ansprüche. Aber eine wirklich liebende Frau bringt den stärksten Mann zur Verzweiflung. Warum, glauben Sie wohl, dauern Verhältnisse um so länger, je weniger die Frau liebt?“

Mir graust plötzlich vor dieser alles verschlingenden Liebe à la française. Sollten die Männer nur aus Selbsterhaltungstrieb gehandelt haben, als sie die Frau versklavten und auf Haus und Kind beschränkten? Es sieht fast so aus, denn dieses neue Spiel mit der Freiheit scheint zum Heldenfriedhof der Männer zu werden. Kein Wunder, daß sie wieder Sultane sein wollen und einen friedlichen Harem den vernichtenden Stürmen der Liebe vorziehen. In Paris muß man sich die Frage ernsthaft stellen, ob der Mann der vollen Freiheit der Frau gewachsen ist.

Claire lächelt geheimnisvoll, als kenne sie auch die Antwort auf diese Frage. Aber sie sagt nur:

„Wir sind ja noch nicht ganz frei. Vielleicht ist das der Preis, den die Männer zunächst einmal zahlen müssen, weil sie uns so lange erniedrigt haben. Später pendelt sich dann alles ein. Und glauben Sie mir: Die Liebe wird neu erfunden – und selbst die Ehe wird einen neuen Sinn bekommen…“

Ich glaube im Augenblick überhaupt nichts mehr. Ich weiß nur, daß dieses Wort Liebe nirgendwo soviel herumspukt wie in den Köpfen der Französinnen. Es kommt mir fast so vor, als müsse ich mich davor retten. Und ich bin nicht der einzige:

„Gestern begnügten sich die Frauen mit ein paar zärtlichen Worten“, jammert ein befreundeter Journalist. „Heute wollen sie über die Liebe reden. Das Ding muß analysiert werden. Systematisch. Täglich. Es genügt nicht mehr, ganz einfach zu lieben. Man muß erklären, wie, warum, auf welcher Ebene. Wer hält das noch aus. Man sollte auswandern.“

Strip-tease – Zeichen von Kultur

Ich gehe in ein Arbeiterviertel und frage einen Schlosser, wie es dort zwischen Mann und Frau aussieht.

„Bei uns wird übers Geld geredet“, sagt er. „Die Frauen wollen die Kohlen verwalten. Und das ist ja wohl auch richtig. Meine Kollegen sind auch der Meinung. Selbst wenn sie nicht verheiratet sind, geben sie ihren Gefährtinnen den Lohn und erhalten Taschengeld. Von einem Haushalt kann man doch erst reden, wenn die Frau ihn in die Hand nimmt.“

„Und wie ist es mit der Liebe?“ will ich wissen.

„Jetzt werden Sie wahrscheinlich furchtbar lachen“, meint er verlegen. „Früher zog man sich dabei gar nicht er aus. Aber heute schon. Meine Frau hat darauf bestanden. Und ich sage Ihnen, das ist ein Fortschritt, Ehrenwort. Seither bin ich richtig zärtlich. Die Alte ist mir tausendmal lieber.“

Also auch hier scheinen die Frauen die Entwicklung in ihre Hände genommen zu haben. Auf eine ganz besondere Art. Die klugen Soziologen haben hierfür ein Wort, das mir leider entfallen ist. Auf alle Fälle läuft es darauf hinaus, das der Grad der Entkleidung im direkten Verhältnis zur Kultur eines Menschen steht. Primitive Leute schlafen in ihrem Anzug. Weniger primitive in ihrer Unterwäsche. Die nächste Stufe zieht einen Pyjama darüber. Noch weiter ist man, wenn man die Unterwäsche nicht darunter läßt. Und ich erinnere mich nicht mehr genau, ob es zum höchsten Zeichen der Kultur gehört, wenn man völlig unbekleidet schläft. Eins jedoch weiß ich noch: Die „Liebeskultur“ soll sich auf gleiche Art verfeinern, und zwar bis zu diesem letzten Punkt. Diese Entwicklung soll bereits mit den ersten Tagen der Menschheit begonnen haben. Und zwar zunächst rückläufig. Denn schließlich erfand Eva das kulturelle Strip-tease an jenem Tage im Paradies, als sie sich zum erstenmal anzog.

Ich kenne übrigens ein Mädchen, das so sein Geld verdient. Es tanzt in einer Revue irgendwo am Pigalle. Es ist sehr hübsch und gehört zu jenen Menschen, die man einfach lieben möchte, um sie glücklich zu machen.

Jacques gab sich damals alle Mühe. Aber leider hatte er einen großen Fehler. Auch er wollte sie nackt sehen. Zwar nicht wie all die Touristen und müden Provinzler, die tosend Beifall klatschten, wenn Nicole, mit nur ein paar Federn bekleidet, ihren Bolero tanzte. Er wollte sie natürlich allein bewundern. Aber bewundern war das Wort. Und das machte Nicole unglücklich. Sie schämte sich. Sie, die sich täglich Hunderten zeigte, brachte es nicht übers Herz, sich vor ihm auszuziehen. Obwohl sie ihn liebte – oder gerade weil sie ihn liebte.

Wir verlebten damals dramatische Tage, und ich fragte mich, wie es ausgehen würde. Nicole nahm immer alles sehr ernst.

Jacques öffnete die Tür. Er trägt nur eine Hose. Nicole liegt im Bett. Als sie mich erkennt, stürzt sie auch mich zu, und wir küssen uns, wie es in Frankreich unter Freunden Sitte ist: auf beide Backen. In der Aufregung scheint Nicole vergessen zu haben, daß sie überhaupt nichts anhat.
„Wie ich sehe, hat sich ja alles eingerenkt“, stelle ich bewundernd fest.
„Oh“, schreit sie, rast ins Nebenzimmer und kommt im Morgenrock zurück.
„Wir sind sogar verheiratet“, strahlt Jacques.
„Und redet ihr auch den ganzen Tag über die Liebe?“
„Die Zeit ist Gott sei Dank vorüber.“
„Aber worüber streitet ihr euch jetzt?“

Diese Frage hätte ich nie stellen dürfen. Wie ein Wolkenbruch prasseln die Sätze auf mich nieder. Ich weiß, daß Französinnen schnell reden und viel nachdenken, und Nicole gehört auch noch zu jenen, die intensiv an allen Problemen des Tages teilnehmen. Aber was hier plötzlich auf mich einstürzt, sind Ziffern, Produktionskurven, Statistiken und Gewerkschaftslatein.

Nicole ist mittlerweile technische Zeichnerin geworden und versucht, die beruflichen Rechte der Frau ebenso leidenschaftlich zu verteidigen, wie sie früher für die Freiheit der Liebe gekämpft hat. Sie hat sogar einen wichtigen Posten in der Gewerkschaft.

So erfahre ich, daß der Streit um die weibliche Arbeit heute zu den Hauptthemen Frankreichs gehört. Es geht nicht nur um die endgültige Gleichberechtigung der Frauen. Sie verlangen mehr: eine Arbeitseinteilung, die den besonderen Gegebenheiten der Frau gerecht wird und besonders auf Hausarbeit und Kinderpflege Rücksicht nimmt.

Das neue Bewußtsein der Frau

Die Welt der Arbeit ist vom Mann geschaffen worden – für den Mann. Die Frauen haben sich einfach anpassen müssen. Dagegen laufen sie jetzt Sturm. Energisch und mit beredten Zahlen. Eine berufstätige Frau arbeitet fast doppelt soviel wie ein Mann. Wenn er sich die Pantoffeln anzieht, beginnt für sie das zweite Tagespensum. Sie muß weitere vier bis sechs Stunden schuften, unter Bedingungen, die kein Arbeitsgesetz regelt und die oft jeder Beschreibung spotten.

In Frankreich wird pro Jahr 105 Milliarden Stunden gearbeitet. Davon entfallen 70 Milliarden Stunden auf die Frauen und nur 35 Milliarden auf die Männer. Und dabei behaupten die Antifeministen immer, das „schwache Geschlecht“ sei nicht zur Arbeit geschaffen.

Es ist ein Hohn, meinen die Frauen. Aber es muß anders werden. Wenn die industrielle Gesellschaft ohne die Frau nicht mehr auskommen kann, dann soll sie gefälligst auch jene Arbeitsbedingungen schaffen, die den Frauen ein menschenwürdiges Dasein erlauben. Sonst werden letztlich Familie und Ehe gefährdet, oder die Gesundheit der Frau geht vor die Hunde. Warum sollte es nicht weibliche Arbeitsstunden geben? Oder Halbzeitbeschäftigung? Oder männliche und weibliche Schichten? – Wie früher die Suffragetten, so sind auch heute die Frauen wieder auf die Barrikaden gegangen.

„Im Atomzeitalter müssen wir über die Arbeit und die Liebe anders denken als zur Zeit der absoluten männlichen Vorherrschaft“, sagt Nicole. „Man fährt doch auch nicht mehr mit Ochsenkarren durch Paris. De Gaulle hat uns die Politik versauert. Der will alles allein machen. Aber dafür wird um so mehr um die Rechte der Frau gekämpft. Auf allen Gebieten. Schau dich doch um…“

Es genügt, die Zeitungen aufzuschlagen oder in die Büchereien zu gehen. Die Frau steht wieder im Mittelpunkt der Diskussion. Überall versucht man, ihre Rolle neu zu definieren. Ohne falsche Scham oder blinde Traditionshuldigung.

So machen sich die Franzosen zum Beispiel Gedanken darüber, wie man die Ehe retten kann. Mit der Geburtenkontrolle, so sagen sie, ist eine völlig neue Epoche in den Beziehungen zwischen Mann und Frau angebrochen. Im Moment nämlich, in dem der Mensch es ablehnt, die Entscheidung über seine Nachkommen dem blinden Zufall der Natur zu überlassen, muß sich auch die Rolle der Frau grundlegend ändern. Die Ehe bleibt für die zwar noch eine wichtige Aufgabe – sie hört jedoch auf, ihr Schicksal zu sein.

Deshalb auch zögert die katholische Kirche, der Geburtenkontrolle zuzustimmen. Denn sie fürchtet, daß die Ehe, sobald die Zeugung ausschließlich dem Willen des Menschen unterworfen wird, ihren heiligen Charakter verliert. Aber gleichzeitig gewinnen Sexualität und Gefühl in den ehelichen Beziehungen eine neue, viel größere Bedeutung.

Und hier wiederum bewundere ich die Franzosen. Sie wissen, daß es keinen Sinn hat, das Unvermeidliche mit einem moralischen Mäntelchen zu verdecken. Die Krise der Ehe ist eine Tatsache. Um sie zu lösen, scheuen selbst Priester nicht davor zurück, die erotische Quelle der Liebe in die Sakramentalität der Ehe mit hinein zu heben. Sie sprechen den Körper heilig, als Werkzeug der Erkenntnis und der Einheit zwischen zwei Menschen, die sich lieben. Und es sieht ganz so aus, als ob dies der einzige Weg sei.

Wenn es eine Revolution der Frau gibt, dann findet sie heute in Frankreich statt. Sie hat nichts mit der vielbesungenen „Sex-Revolution“ der Amerikaner zu tun. Dort versucht die Frau durch technische Perfektion jenen Teil ihrer Person wieder in Schwung zu bringen, der im harten Kampf um materielle Sicherheit vernachlässigt worden ist. Es geht ihr hauptsächlich um ihr seelisches Gleichgewicht.

In Frankreich hatte der Aufbruch der Frau nie diesen klinischen Beigeschmack. Vom pathetischen Kniefall vor der Technik ganz zu schweigen. Am Raffinement haben die Franzosen seit über tausend Jahren erfolgreich herumgebastelt.

Nein. Heute wollen sie endlich die Frau mit unserer Zeit in Einklang bringen. Selbst wenn es auf der Oberfläche wie ein Generalabrechnung der Geschlechter aussieht und Auswüchse unvermeidlich sind, so scheint sich doch ein Weg anzubahnen, auf dem Mann und Frau als gleiche Partner in die Zukunft gehen können.

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