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Unser Nachbar Frankreich VI

Stern, Heft 31, 5. August 1962

Kein Volk hat im zwanzigsten Jahrhundert so lange Krieg geführt wie die Franzosen. Seit 1939 ohne Unterbrechung. Jetzt ist der Krieg zu Ende. Zum ersten Mal seit dreiundzwanzig Jahren kann Frankreich sich unbeschwert seinem dringendsten Problem zuwenden: sich selbst. Was andere Völker in Angriff nehmen konnten, als sie 1945 die Waffen niederlegten – den Versuch einer wirtschaftlichen und sozialen Anpassung an die technische Entwicklung – kann jetzt auch Frankreich in vollem Maße beginnen.
Die französischen Nachzügler krempeln die Ärmel hoch. „Also los“, sagen sie, „nun wollen wir endlich das Geld, das wir bis jetzt in Indochina, Madagaskar und Algerien verpulvert haben, dort anlegen, wo es am nötigsten fehlt. – Wir müssen schnellstens einen Teil unserer Industrie von Paris in die Provinz verlegen, sonst stirbt das Hinterland. Wir müssen unsere Märkte neu organisieren, die Landwirtschaft von Grund auf neu ordnen und Lehrer, Beamte, Angestellte besser bezahlen. Nie haben wir einen solchen Bevölkerungszuwachs gekannt. Innerhalb von drei Jahren werden zusätzlich eine Million Menschen Arbeit fordern und wohnen wollen. Zehn Millionen Franzosen gehen zur Schule. Das hat es noch nie gegeben. Aber seit Jahren schon fehlen Schulen und Lehrer. Das Problem wird zur Lebensfrage. Es geht um unseren kostbarsten Besitz: das ‚Kapital Gehirn‘. Wir werden den Vorsprung Amerikas und Rußlands nie mehr einholen können, wenn wir nicht sofort zehn Millionen Quadratmeter Schulraum bauen und viele Tausend Lehrer ausbilden. Und wir brauchen Häuser. Nur fünf Prozent aller jungverheirateten Franzosen haben richtige Wohnungen. Alle anderen leben in Einzelzimmern oder bei den Eltern. Und wir brauchen Autobahnen. Wir haben ja jetzt das Geld. Gott sei Dank. Es ist eine Minute vor zwölf. Und wir brauchen…“
„Moment mal“, sagt de Gaulle, „ihr vergeßt die Hauptsache: unsere Größe. Wir brauchen eine eigene atomare Bewaffnung. Wir basteln bereits an H-Bomben und Atom-U-Booten. Unsere Armee braucht wieder eine große Mission, die Frankreichs würdig ist. Wir müssen mächtig werden, um eigene Politik treiben zu können, als die Führer einer dritten Weltmacht: das Europa der Vaterländer. Dazu brauchen wir Geld, und vor allem gute Patrioten. Wir brauchen…“

Größe mißt sich nicht an Bomben

„Schon gut“, seufzen die Franzosen. „Wir wissen: das Atomwerk von Pierrelatte kostet drei Milliarden Mark nur für den Anfang, vier weitere, um in Schwung zu kommen, und wahrscheinlich noch mal so viel, um zu produzieren. Wenn uns der Atem ausgeht, werden die Deutschen ein wenig mitmachen. Auch jenseits des Rheins gibt es Atomfanatiker. Schon gut, schon gut. Wir sollen wiederum das Notwendigste dem Imperativ der Größe opfern. In Indochina ging es um die Größe. In Algerien auch. Jedes Mal hieß es: ‚Ihr müßt durchhalten. Es geht um unsere Existenz. Wer widerspricht, ist ein Antifranzose, kein echter Sohn unserer Nation.‘ Viele widersprachen zwar, aber wir meuterten nicht. Und die Größe ging trotzdem flöten. Wenigstens in Indochina, Madagaskar und Algerien, an denen sie scheinbar hing. Und jetzt hängt sie plötzlich an der Atombombe und unserer europäischen Mission. Erklärt uns doch mal, wie die Größe aussieht.“
„Aber erlaubt mal“, spricht der Chor der Patrioten (Die Stimme der OAS ist am lautesten vernehmbar). „Eure Frage beweist bereits, daß ihr dekadent seid und nur noch an bezahlten Urlaub und Kühlschränke denkt. Es ist höchste Zeit, daß wir euch zwingen, eure Mission neu zu entdecken. Die Größe, verehrte Herren, wird geboren aus dem Respekt vor den heiligen Prinzipien, als da sind: Patriotismus, Stolz, Opferbereitschaft, Gehorsam, moralische Integrität, Liebe zur Arbeit und zu den überlieferten Pflichten, Verehrung der Tradition und Bereitschaft, für diese ewigen Werte zu kämpfen und zu sterben.“
Und der Dialog geht weiter:
„Laßt uns doch mal I-Punkte machen“, sagen die ’Antifranzosen‘. „Dekadenz? Was bedeutet dieses Wort, das ihr uns unentwegt an den Kopf werft? Soviel wir wissen, ist sie die Karikatur der Vergangenheit. Die häßliche Fratze, die ein Volk zieht, wenn es sich unaufhaltsam selber kopieren und nach Prinzipien leben will, die ihren Sinn verloren haben. – Der Militarismus, der Kolonialismus, die Machtpolitik, die Herrschaft des Bürgertums und seine Tugenden, der Klassenkampf à la Marx, der Patriotismus Stil 1914. All das gehört einer Epoche an, die endgültig abgeschlossen ist. Es ist ein Zeichen von Dekadenz, verehrte Herren, wenn man in überlebten Normen denkt und lebt. I h r seid dekadent, nicht wir. Hinter eurer Arroganz versteckt sich Fantasielosigkeit, hinter eurem nationalen Stolz nur Routine. Ihr habt einmal Pferde gezüchtet und gute Geschäfte damit gemacht. Mittlerweile wurden Autos und Traktoren erfunden. Aber ihr wollt immer noch mit Hü und Hott regieren.“
In diese beiden Lager spaltet sich Frankreich heute. Mit Nuancierungen auf jeder Seite und einer großen uninteressierten Masse in der Mitte.
Zwischen den Fronten steht auch General de Gaulle. Mehr oder weniger. Das heißt, er ist zwar bereit, vieles „neu zu denken“, jedoch nur mit Rücksicht auf die Größe. Sein Hauptziel – die atomare Bewaffnung und das Europa der Vaterländer – gehorchen machtpolitischen Überlegungen alten Stils.
Seine ganze Haltung wird in erster Linie vom Prestige bestimmt. Prestige für seine Person. Prestige für Frankreich. Koste es, was es wolle. Eine solche Politik verschlingt Unsummen. Die prunkvollen Empfänge fremder Staatsoberhäupter kosten jedes Mal den Preis von vielen neuen Schulen. Für die Verschwörung von Paris (Putz der Häuserfronten) könnten ganze Siedlung gebaut werden. Um nur das zu nennen.
De Gaulle wird deshalb von vielen als Hindernis für eine gesunde Entwicklung angesehen und bekämpft. Denn heute wird entschieden, wie Frankreich morgen aussieht. Die Zukunft des Landes und das Leben eines jeden hängen davon ab, wie die Energien Frankreichs in den nächsten Jahren eingesetzt werden, wo das Geld der Steuerzahler hingeht und was aus Europa wird.
Natürlich liebt das Volk die großen Schauspiele. Es umjubelt Kraftmeier und Stars. „Geben wir ihnen Brot und Spiele“, sagten schon die alten Römer.
– „Auch das gehört zum alten Stil“, sagen die neuen Männer. „Wir vergehen uns an der Würde eines Volkes, wenn wir es verdummen. Es muß wissen, daß es um s e i n Geld geht und um s e i n e Zukunft. Wir müssen es informieren. Ständig. Es muß teilnehmen an allen Entscheidungen. Die Regierenden behaupten immer: Alles geht gut. Macht euch keine Sorgen. Amüsiert euch nur. Wir sind ja da…
– Je mehr die Schwierigkeiten vertuscht werden, umso nötiger wird ein regelrechter Kreuzzug gegen die Verdummung. Die Größe einer Zivilisation mißt sich heute nicht mehr an Bomben, Kolonien, falschen Helden und roten Teppichen. Sie mißt sich an der Aufrichtigkeit der Information, an den Kenntnissen und der Beteiligung eines jeden. Das ist unserer Auffassung von Größe“, sagen sie. „Nur ein wissendes Volk ist groß und demokratisch.“

Die Vergangenheit gehört ins Familienalbum

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würden sich – wie immer und überall – die „rechten“ und die „linken“ Tendenzen gegenüberstehen. Das ist nur bedingt richtig. Aus allen Kreisen und Klassen sind Männer hervorgegangen, die nicht mehr in das herkömmliche Schema passen. Katholische Priester kämpfen zusammen mit Arbeitern und führen Bauernrevolten. Industrielle fordern Verstaatlichung. Großgrundbesitzer wollen kollektiveren. Lehrer wollen neue Tugenden. Professoren neue Bücher. In jeder Schicht wird man sich bewußt, daß die traditionellen Strukturen unfähig sind, die Zukunft zu tragen.
„Alle Ideologien sind überholt“, sagen sie. „Sie wurden während der ersten Phase der industriellen Revolution geprägt. Damals entsprachen sie den Gegebenheiten. Heute aber stecken wir tief in der zweiten Phase. Die ‚wissenschaftliche Explosion‘ ist in vollem Gange. Hier sind die alten Ideen wertlos. Ob es sich um die liberalen Theorien des neunzehnten Jahrhunderts handelt oder um Marx – sie sind die geistigen Kinder einer Zeit, wo traditionelle Landwirtschaft, junge Industrie und neues Proletariat sich gegenüberstanden. Dieses Bild der Vergangenheit gehört ins Familienalbum, aber nicht auf den Tisch von Politikern. Wer heute noch ernsthaft die Doktrinen des neunzehnten Jahrhunderts in die Gegenwart übertragen will, beweist nur, daß er nichts begriffen hat. Die Voraussetzungen sind nicht mehr die gleichen.
Nur weil wir stehengeblieben sind, ist der technische Fortschritt im Begriff, den Menschen zu erdrücken. Wir müssen neue Strukturen erfinden, um den Fortschritt zu beherrschen und ihn in den Dienst der Menschen zu stellen. Alle Schichten der Gesellschaft müssen sich zu diesem gemeinsamen Werk zusammenfinden. Es gibt keine Klassenschicksale mehr. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Sobald diese Notwendigkeit bewußt wird, gibt es keine Krise der westlichen Welt mehr. Und keine ‚kommunistische Gefahr‘. Diese berühmte Krise ist nur das Ergebnis der Fantasielosigkeit. Sie ist ausschließlich der Weigerung zuzuschreiben, unsere inneren Strukturen der neuen Umwelt anzupassen. Sobald wir das erkannt haben, können wir voller Zuversicht in die Zukunft blicken.“
So sprechen nicht nur Intellektuelle und Politiker.
„Weg mit den alten Strukturen“, verlangen die Bauern der Bretagne und werfen ihre Artischocken in die Fenster der Rathäuser.
Was ist geschehen? Warum revoltieren sie? – Sie erleben, was die Theoretiker aussprechen: die tödliche Tyrannei eines verkalkten Marktsystems. Der vor einigen Jahren entfachte „Krieg der Artischocken“ zeigt am besten, was mit Strukturwandel gemeint ist:
Viele Bauern der Bretagne leben von Artischocken, die in Paris gegessen werden. Bevor die Artischocken aus der Hand des Produzenten in den Mund des Parisers wandern, gehen sie durch viele Hände: vom Aufkäufer über eine Versandfirma und ein Transportunternehmen zum Großverteiler. Der wiederum beliefert die Großhändler, der Großhändler die Zwischenhändler auf dem Großmarkt. Dort endlich kauft der Einzelhändler, der sich durch den Nahtransport die Ware bringen läßt. Und jeder verdient an den Artischocken. Der Bauer erhält im Durchschnitt 15 Pfennig für ein Pfund. Der Verbraucher zahlt eine Mark in Paris. Im übrigen macht der Zwischenhandel mit den Erzeugern, was er will.
Es fängt in Saint-Pol de Léon an, dem großen Markt der Bretagne. Die Bauern pflücken ihre Artischocken vor Sonnenaufgang, damit sie schön frisch sind, und bringen sie auf den Markt in die Stadt. Meistens sind sie schon vor acht Uhr da. Sie wissen natürlich nicht, wie die Nachfrage ist, ob in Paris viel verlangt wird, wie hoch der Preis sein mag. Nichts. Sie stehen und warten. Manchmal bis mittags. Dann kommen die Angestellten der großen Händler: die Aufkäufer. Sie spazieren zwischen den Karren herum, als hätten sie nichts zu tun.

Kommunisten kämpfen um Trinkgelder

Jetzt geht’s los. Der Bauer muß sich „bemerkbar machen“. Das heißt, er muß dem Aufkäufer ein Trinkgeld zustecken, wenn er nicht bis zum Abend dastehen will, ohne etwas verkauft zu haben. Sobald man „bemerkt“ worden ist, beginnt das Feilschen, das wiederum mit Zigaretten und Wein in Schwung gehalten werden muß. Nachdem der Handel abgeschlossen ist, kommen die Verpacker. Sie haben natürlich ebenfalls recht auf einen Liter Wein und zehn Mark Trinkgeld.
Und der Bauer mu weitere Zugeständnisse machen: drei Prozent, wenn bar bezahlt wird. Zehn bis zwanzig Prozent für sogenannte Unreinheiten (lange Stängel, trockene Blätter). Alles nach Gutdünken der Händler, natürlich. – Zum Schluß wird gewogen. Ein paar Bauern, die zu Hause das Gewicht ihrer Ladung kontrolliert hatten, mußten zu ihrem Erstaunen feststellen, daß die Waagen der Händler anderer Meinung sind: 2300 kg sind plötzlich nur noch 1600 kg.
Hiermit fing der Krieg an. Die Bauern verlangten eine öffentliche Waage auf dem Markt von Saint-Pol.
„Kommt gar nicht in Frage“, erklärten Händler und Behörden. „Dies ist ein Markt mit Tradition. Er ist immer gut genug gewesen. Warum sollten wir plötzlich die guten alten Gewohnheiten ändern?“
Die Bauern wurden böse. Eine Woche lang brachten sie keine Artischocken mehr und belagerten das Rathaus von Saint-Pol.
„Wir stecken es in Brand“, drohten sie, „wenn wir keine Waage bekommen.“
Man hätte sie gern Kommunisten genannt und das Militär gerufen. Aber das war leider nicht möglich. Die Kommunisten standen nämlich auf der Seite der Händler. Die Einpacker, Angehörige der kommunistischen Gewerkschaften, bangten um ihre Trinkgelder. Und im Übrigen gehörte der junge Klerus der Bretagne zu den Wortführern der Revolte.
Die Bauern erhielten ihre Waage. Ein kleines Stückchen Struktur des Marktes von Saint-Pol war verwandelt worden.
Und wieder fahren die Bauern ihre Karren und Wagen auf den großen Platz zwischen Kirche und Rathaus. Je näher der Sommer rückt, umso länger müssen sie warten. Manchmal bis abends.
Mittlerweile hängen die Händler am Telefon. Sie vergleichen die Angebote in anderen Städten mit der Nachfrage in Paris. Und sie machen ihre Preise. Der Bauer weiß von nichts. Er hat kein Telefon. Er muß warten und annehmen, was ihm geboten wird.
Wenn im Juni der heiße Wind über die Artischocken weht und sie über Nacht zur Reife bringt, muß sofort geerntet werden. Das Angebot steigt. Jetzt braucht der Händler nur noch zu sagen: „Paris ist mit Artischocken überschwemmt“, um den Preis auf ein Zehntel des Wertes zu drücken.
Was sollen die Bauern tun? Sie verdienen nicht einmal mehr die Trinkgelder, die sie verteilen müssen, um verkaufen zu können. Sie geben ihre Ware ab, oder sie lassen sie auf den Feldern verfaulen. Warum pflücken, wenn nicht einmal der Transport zum Markt sich auszahlt?

Saint-Pol de Léon in der Bretagne wird jeden Sommer zum Schlachtfeld des Artischockenkrieges. Wenn der heiße Wind über die Felder weht, werden die Pflanzen über Nacht reif. Das Angebot steigt. Die Preise fallen ins Bodenlose. Die Händler wollen wegen der geringeren Gewinnspanne nichts mehr abnehmen. Die Bauern stampfen ihre Artischocken ein – oder werfen sie auf die Straße, um gegen ein verkalktes Marktsystem, gegen die veralteten Strukturen der französischen Landwirtschaft zu protestieren. Sie schlagen Krach und wollen Reformen. In ganz Frankreich revoltieren die jungen Bauern gegen die Vergangenheit

Professoren verkaufen Gemüse

So lebten sie bis vor zwei Jahren. Da kamen sie plötzlich auf die Idee, doch selbst einmal nach Paris zu fahren, um nachzusehen, ob der Markt wirklich übersättigt ist. Bretonen sind impulsiv. Gedacht, getan. Sie luden 15 Lastwagen voll Artischocken und machten sich auf den Weg.
In Paris fanden sie sich natürlich nicht zurecht. Einbahnstraßen wurden verstopft, der Verkehr kam durcheinander. Ihre Aktion schien zu scheitern. Im letzten Moment fanden sie unerwartete Hilfe: Die Studentengewerkschaften und die PSU (Vereinigte Sozialistische Partei – Mendès France) forderten ihre Mitglieder auf, den Bauern zu helfen. „Geleitet sie durch Paris“, hieß es. „Schützt sie vor den Kommandos der Händler. Helft verkaufen.“
Die drei ersten Pariser, die Artischocken ausriefen, waren ein bekannter Maler, ein Philologieprofessor und ein hoher Beamter des Finanzministeriums. Bald folgten Hunderte. Neger, würdige Herren, Postboten in Uniform und Damen der Gesellschaft zogen durch die Straßen und riefen: „Artischocken, kauft Artischocken. Direkt vom Erzeuger an den Verbraucher. Artischocken, bitte…“
Auch diesmal konnte man die Bauern nicht als Kommunisten verschreien. Die Partei der Proletarier aller Länder und so weiter.… stand wiederum auf der Seite der dicken Händler. Junge Kommunisten, die schon lange gegen die wahlpolitischen Manöver der Partei meuterten, benutzten diese Gelegenheit, um endgültig auszubrechen. „Kauft Artischocken, revisionistische Artischocken“, riefen sie vor den Fenstern der Parteibüros und halfen den Bauern. Ganz Paris machte mit. Wenn Polizei den illegalen Verkauf der Artischocken unterbinden wollte, zwangen Hausfrauen die Polizisten zum Rückzug.
Die Bauern waren überwältigt. Und sie hatten endlich begriffen: Paris brauchte wirklich Artischocken. Der Markt war gar nicht übersättigt. Den Zwischenhändlern paßte es einfach nicht, bei einem großen Angebot kleine Gewinne einzustecken. Das war alles. Eine Gruppe von wenigen Händlern kann willkürlich über Arbeit und Verdienst der Bauern einer ganzen Region entscheiden. Während Paris Artischocken verlangt und Millionen Pflanzen auf den Feldern verfaulen, falten diese Herren ihre Hände über dem Bauch, weil das Geschäft nicht interessant genug ist. Für sie.
Was können die Bauern dagegen unternehmen? Nichts. Die „Strukturen“ sind nun einmal so: Eine Mafia beherrscht die Märkte der Provinz, den Zentralmarkt in Paris und sämtliche Zwischenstationen. – Und Produzenten dürfen laut Gesetz nicht direkt an Verbraucher verkaufen.
Was bleibt den Bauern übrig? Weiterhin die „Tradition“ zu achten und die Spielbälle der Mafia zu bleiben – oder Krach zu schlagen, damit die Gesetze geändert werden, die die alten Strukturen schützen.
Das taten sie dann auch. Sie schlugen so lange Krach, bis die Regierung sie einlud, ihre Forderungen vorzutragen.
„Wir sind nicht gegen das Gesetz von Angebot und Nachfrage“, sagten sie. „Wir verlangen jedoch, daß es nicht willkürlich von ein paar Leuten manipuliert wird. Wir brauchen einen Zentralmarkt für ganz Frankreich, mit Fernschreibern. Eine richtige Börse, damit wir wissen, wie viel wir pflanzen und verkaufen und was wir verlangen können. Wir wollen auch, daß die Gewinnspannen der Zwischenhändler gesetzlich festgelegt und kontrolliert werden.“
Die Regierung versprach, die nötigen Schritte zu unternehmen. Bis heute blieb es bei den Versprechungen. Die Mafia der Händler ist mächtig. Sie beherrscht nicht nur den Artischockenmarkt. Sie kontrolliert die Lobbys von Obst und Fleisch, von Wein und Fisch. Ihre Hochburgen sind die Hallen und Schlachthäuser von Paris. Schon seit Jahren will die Regierung diese Märkte dezentralisieren. Allein die Verkehrsstaus, die sie in Paris verursachen, rechtfertigen ihre Verlegung. Es gibt sogar ein Gesetz in diesem Sinne. Aber selbst de Gaulle hat es bis heute nicht fertiggebracht, sich gegen die Mafia der Händler durchzusetzen.
Und jedes Jahr, wenn der warme Wind über die Felder der Bretagne weht, graben die Bauern das Kriegsbeil aus. – Mittlerweile haben sie viel dazu gelernt. Sie haben sich zusammengeschlossen und mithilfe von Fachleuten systematisch ihre Lage studiert. Nicht nur in der Bretagne. In ganz Frankreich laufen die jungen Bauern heute Sturm gegen die alten Strukturen. Sie erklären:
– der individuelle Betrieb ist zum Untergang verurteilt.
– die Freiheit des allein auf sich gestellten Erzeugers ist eine Utopie.
– der Übergang von der herkömmlichen zur industriellen Landwirtschaft ist unvermeidlich.
– für die kleinen und mittleren Bauern gibt es mithin nur eine Alternative: die freiwillige Zusammenlegung ihrer Arbeit und ihrer Produktion – oder die Übergabe der Kontrolle an das große Agrarkapital und an industrielle Unternehmen; das heißt, Proletarisierung der Bauern.
Letzteres lehnen sie ab. Sie ziehen es vor, sich freiwillig zu Großflächenbetrieben zusammenzuschließen. Und sie fordern: Beschränkung des Bodenbesitzes – obligatorische Flurbereinigung – Kontrolle der Märkte durch die Erzeuger – Planung der landwirtschaftlichen Produktion auf nationaler Ebene.

Besitz verliert die alte Bedeutung

Das Unwahrscheinliche ist geschehen: Die konservativste Gruppe der Franzosen, die Bauern, stellen das Recht auf Besitz infrage und verlangen nationale Planung. Männer, die noch vor wenigen Jahren energisch jeden Quadratmeter Boden verteidigten – wenn es sein mußte, mit dem Gewehr –, erwachen plötzlich zum Bewußtsein unserer Epoche und ziehen mutig Konsequenzen.
„Die französischen Bauern sind heute die einzige wirklich revolutionäre Kraft der westlichen Welt“, erklärte vor kurzem der französische Landwirtschaftsminister Pisani und legte dem Parlament einen Gesetzesentwurf vor, der in mancher Hinsicht revolutionär ist und die Forderungen der Bauern weitgehend berücksichtigt.
Der junge Bauer ist zu der gleichen Einsicht gekommen, wie Professoren, Arbeiter, Gelehrte, Studenten, Geistliche und viele Männer aus allen Schichten des französischen Volkes. Er betrachtet sich nicht mehr als ein isolierter Mensch in einer durch gegensätzliche Interessen zerrissenen Gesellschaft, sondern als Glied einer Gemeinschaft, die zusammen nach dem Wohlergehen aller strebt.
Und nicht anders denken die jungen Unternehmer. Sie haben sich zu einer Gesellschaft zusammengeschlossen, dem CJP (Zentrum der jungen Unternehmer), das bereits heute 4000 Mitglieder zählt.
„Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren“, sagen sie. „In zehn Jahren wird die Hälfte aller Franzosen jünger als 25 Jahre sein. Wenn unsere Generation bis dahin keine neuen Strukturen geschaffen hat, kann alles passieren. Wir sind die letzten Reformatoren. Wenn wir scheitern, kommt nach uns die Revolution.“
Das CJP will die unternehmerische Entscheidungsfreiheit retten. Um das zu erreichen, wollen seine Mitglieder zunächst das Unternehmertum reformieren. Unternehmergewerkschaften sollen gegründet werden, um das Grundsätzliche zu erhalten: die unternehmerische Verantwortung in Leitung und Entscheidung. Aber sie sind bereit, alles andere aufzugeben – selbst den Besitz, wenn es sein muß.
„Der Besitz der Produktionsmittel interessiert uns nicht“, sagen sie. „Was uns wichtig scheint, ist die Leistung des Unternehmens. Ob es verstaatlicht ist, einer Familie oder einer Aktiengesellschaft gehört, verliert immer mehr an Bedeutung. Entscheidend für die Zukunft ist die aktive Beteiligung, die Partnerschaft der Arbeiter.“
Sie verlangen nicht nur eine nationale Planung, wie sie in Frankreich bereits zum Teil durchgeführt wird. Sie fordern die Aufteilung des Landes in zehn Bezirke, in denen Wirtschaftsräte in Zusammenarbeit mit Gewerkschafts- und Industrievertretern die regionalen Planziele des nationalen Planes ausarbeiten und durchführen. Und sie denken schon an Europa. Sie stellen sich ein Europa vor, das in 20 bis 30 Zonen eingeteilt ist und wo die ärmeren Bezirke (Sizilien, Bayern, die Auvergne und andere) ihre gemeinsamen Interessen vor den supranationalen Instanzen vertreten – gegen solche Gegenden, wie die Ruhr, Luxemburg und Lothringen.
Diese Jungen werfen die alten Tabus der traditionellen Unternehmer über Bord und konzentrieren sich auf das Wesentliche: die Zukunft. Der Bruch der Generationen, der durch ganz Frankreich geht, ist bei ihnen am stärksten zu spüren.

Frankreich – die Vorhut Europas

Ich könnte tausend Beispiele nennen von Studiengruppen, Diskussionsgemeinschaften, Arbeiterausschüssen und christlichen Gewerkschaften, die in allen Städten Frankreichs außerhalb der Parteien und hoch über dem Mythos von rechts und links die neuen Strukturen suchen, die der Gesellschaft erlauben, den Fortschritt zum Nutzen und Vorteil des Menschen zu organisieren.
Es sind die bewußten Kinder unserer Zeit. Für sie sind der algerische Krieg, die OAS, Kommunisten und Nationalisten die tragischen Gestalten eines Nachhutgefechtes, welches sich die überlebten Ideen liefern, bevor sie von der Bühne der Geschichte verschwinden.
Dieses ist keineswegs nur das Problem Frankreichs. Der gleiche Kampf, die gleiche Krise durchzieht alle hochentwickelten Nationen des Westens. Die Auseinandersetzung ist in Frankreich nur deshalb dramatischer, weil die langen Kolonialkriege zu Stellungnahmen zwangen und einen Prozeß zur Reife brachten, der in anderen Ländern zunächst noch als Unbehagen empfunden wird. – Nur weil sie zum Untergang verurteilt sind, werden die Kräfte der Vergangenheit zu jenen Verzweiflungstaten getrieben, die wir im ersten Teil dieser Berichtserie beschrieben haben. Gleiches kann sich morgen in allen Provinzen Europas wiederholen, wenn dort die Krise zum Ausbruch kommt.
Frankreich ist unsere Vorhut. Der dynamische Teil des französischen Volkes hat resolut die Aufgabe übernommen, unsere Welt im Hinblick auf die Zukunft zu verstehen. Er verweigert sich, der allgemeinen Tendenz zu verfallen, die nur aus Faulheit und Einfallsarmut die Vergangenheit verlängern will. Er will nicht „rückwärts in die Zukunft schreiten“, wie Paul Valéry es ausdrückte.
Hier, scheint mir, liegt das echte Genie des französischen Volkes. Seine Großmut, seine Weitsicht, seine Intelligenz, seine Weisheit, sein Mut. Sein Anspruch auf Originalität. Sein Recht, der Wortführer des werdenden Europas zu sein.
Die Verbrüderung aller Völker Europas, an der diese Männer arbeiten, vollzieht sich nicht im Gleichschritt der Truppen. Sie bedarf keiner Militärmusik, keiner feierlichen Absprachen alten Stils.
Sie verwirklicht sich, wenn immer mehr Europäer es diesen Franzosen gleichtun und verstehen, daß wir am Beginn einer neuen Phase der Entwicklung stehen, die ein neues Denken erfordert. Wenn wir, Bürger Europas, aufhören, eine Welt nachzuahmen, die es nicht mehr gibt. Wenn wir uns für die neue Epoche begeistern, die der menschlichen Großmut und unserer westlichen Welt unendliche Möglichkeiten bietet – und unserer Jugend endlich ein Ziel.

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