Skip to content
  • Deutsch
  • English
  • Français

Moderne Vielweiberei

Stern, Heft 46, 15. November 1964

Den ersten Fußtritt verspüre ich an der linken Wade. Der zweite sitzt in der rechten Kniekehle. Der dritte sollte meinen Hintern erreichen, aber der eifrige Treter hat zu hoch hinausgewollt. Seine Beine sind zu kurz. Er hat das Gleichgewicht verloren und liegt am Boden. Als ich ihn am Kragen hochheben will, beißt er mir kräftig in die Hand und rennt davon.
„Hijo de Puta“, schreit er aus vollem Halse. „Hurensohn“, und er rettet sich stolz in die Röcke seiner Mutter, die nicht weit entfernt auf einer Parkbank sitzt.
Die Frau klemmt ihn schützen zwischen ihre Beine. Ihr Busen der von einem leichten Pullover nur ungenügend gestürzt sich großzügig ausbreitet, dient dem Kleinen als Schild. Er späht dahinter hervor und streckt mir die Zunge heraus.
Neben der Mutter sind zwei Mädchen von ungefähr zehn und zwölf Jahren mit einer Bonbontüte beschäftigt. Der Junge schlägt plötzlich dagegen, und die Tüte zerplatzt im Gesicht des älteren Mädchens. Während die beiden Schwestern sich bücken, gibt er der jüngeren einen Fußtritt und stürmt davon. Die Mädchen haben Tränen in den Augen. Die Bonbons liegen in einer schmutzigen Wasserlache unter der Parkbank.
„Die kann man nicht mehr essen“, stellt die eine traurig fest.
„Ich hasse José“, jammerte die andere. „Wenn doch nur Papa öfter zu Hause wäre, dann …“
Sie kommt nicht weiter. Eine Ohrfeige schließt ihr den Mund.
„Disgraciada“ – Unglückliche, seit wann kritisiert man seinen Vater?“ sagt die Frau und gibt ihren Worten mit einer zweiten Ohrfeige Nachdruck. Die jüngere fischt nach den Bonbons.
„Sie sind alle naß“, klagt sie. „José ist gemein.“
„Der ist ein Junge“, sagt die Mutter mit unverkennbarem Stolz, „ein richtiger ’macho’“ (typisch spanische Ausdruck für einen echten Mann).
Ich bin von der Szene so fasziniert, daß ich den „macho“ aus den Augen gelassen habe. Ein warmes Gefühl am rechten Bein bringt ihn sozusagen strahlartig in Erinnerung. Er steht breitbeinig hinter mir und pinkelt gegen meine Hose.
„Hijo de Puta“, sagt er leise. „Gringo“ (Schimpfwort für Amerikaner), und will wieder ausreißen.
Diesmal erwische ich ihn und gebe ihm ein paar schallende Ohrfeigen.
Ein brüllender Stier hätte kaum mehr Aufregung verursachen können, als der schreiende Junge. Er wälzt sich auf dem Boden. Hab’ ich zu stark zugeschlagen? Die Schwestern sind bei ihm. Er tritt mit Füßen nach ihnen. Ich beruhige mich. Jetzt kommt auch die Mutter keuchend heran. Als sie ihrem Sohn gut zureden will, spuckt er ihr ins Gesicht.
„Geh weg, ich will Papa“, schreit er. Die Schwestern werden immer noch getreten. Die Mutter wendet sich gegen mich: „Sie Feigling. Sie haben meinen Sohn geschlagen.“
„Ich weiß. Er hat es verdient.“
„Sie haben Prügel verdient. Sie.“
„Aber liebe Frau …“
„Ich bin nicht ihre ‚liebe Frau‘. Ich bin eine Mexikanerin. Und das hier …“
„Ist ein ungezogener Bursche.“
„Ein mexikanischer Junge. Sie haben wohl was gegen Mexiko. Sie Gringo, Sie …“
Die Begriffe verwirren sich. Jetzt bin ich schon ein Feind Mexikos, weil ich einen Jungen geohrfeigt habe, der mich getreten, gebissen und bepinkelt hat. Männer und Frauen kommen drohend näher. Zum Glück hat einer die Geschehnisse verfolgt. Es sei alles halb so schlimm, meint er, die Mutter solle sich beruhigen.
„Gibt es denn keinen Mann hier, der eine Mexikanerin gegen einen Gringo verteidigt?“ jammert sie. „Seid ihr alle Weiber?“
Das hätte sie nicht sagen dürfen. Vier Männer treten wie ein Mann zwei Schritte vor und blickten sie drohend an.
„Soll ich dir beweisen, daß ich ein Mann bin?“ fragt der erste.
„Oder ich?“ provoziert der zweite.
„Und was meinst du, was ich kann“, über bietet der dritte.
„Oder ich vielleicht?“ beendet der vierte den kurzen, unmißverständlichen Hinweis auf den fundamentalen Unterschied zwischen Mann und Frau.
Damit ist die Diskussion beendet. Die Männer haben die Ordnung wiederhergestellt. Sie haben drohend ihre Zepter geschwungen, um der Frau wieder einmal zu zeigen wer Herr und Meister ist. Keine Gelegenheit darf verpasst werden, es mit Worten und Gesten zu zeigen.

Die Mexikaner halten sich für die Supermänner der Welt. Die Frauen müssen dafür
einen bitterem Preis bezahlenen


Die Mexikaner lieben das. Sie haben ihre Welt haarscharf eingeteilt in solche, die „es“ haben: Männer – und solche die „es“ nicht haben: Frauen. Im Besitz liegt ihre Meinung nach nicht nur die männliche Kraft, sondern – gleichsam magisch – jede menschliche Wert.
Warum darf „José“ mich anpinkeln, seine Schwestern treten und seiner Mutter ins Gesicht spucken? Weil er ein Junge ist. Ein Mann, und sei er noch so klein, muß beweisen, daß er zum Herrchen geboren wurde.
Wenn in Mexiko ein Wickeljunge leiser schreit als ein gleichaltriges Mädchen, wird er so lange gekniffen, bis seine Stimmgewalt eindeutig überlegen ist. Ein kleines Mädchen darf sich nackt nicht sehen lassen. Das hingegen, was einen Jungen männlich macht, wird stolz herumgezeigt. Im Volk ziehen Mütter und Ammen kräftig dran herum, damit es ja nicht verkümmert. Muß doch die männliche Seele zu Entfaltung gebracht werden, die hier ihr greifbares Symbol hat.
Sobald so ein Knirps laufen kann, wird er zum Haustyrannen. Die Mutter ist glücklich einem „macho das Leben geschenkt zu haben und wird sich kaum erlaube ihn zu rechtzuweisen oder gar zu erziehen. Ist er ihr doch dem Wesen nach überlegen.
Das gilt auch für die Schwestern. Sie müssen dem Bruder gehorchen und werden so auf ihr Lebensziel vorbereitet: dem Dienst am Mann.
Selbst der Vater bestraft ungern. Er würde sich schämen, einen gehorsamen Sohn zu haben. Der Junge muss „muy hombre“ (ganz Mann) sein und tiefe Verachtung für die Umgebung zeigen. Schon um seinen Erzeuger nicht in den Verdacht zu bringen, selbst kein echter „macho“ zu sein.

Große Hüte – auch sie sind ein Symbol der Männlichkeit


Und nie wird jemand dem Jungen erklären, wie man wirklich ein Mann wird, ein erwachsener Mensch. Warum auch? Die Tatsache der Männlichkeit ist bereits die endgültige Krönung seines Lebens. Eine Qualität, die alle anderen einschließt.
So stürzt er sich ins Leben. Aber dort gibt es andere Männer, die ebenfalls überzeugt sind, daß jener Zufall der Geburt sie zur Vorherrschaft berechtigt und jede weitere Anstrengung überflüssig macht.
Wie sollte das gut gehen? Bald fühlt sich der junge Mann enttäuscht und betrogen. Der Minderwertigkeitskomplex bleibt nicht aus. Aber er kann ihn sich nicht eingestehen. Ist er doch ein „macho“, ein Supermann. Also muß die Gesellschaft daran Schuld sein, die schlechte Welt, er fühlt sich als Opfer.
Wo kann er seine Ernüchterung besser kompensieren als zu Hause? An der Frau richtet er sein Selbstgefühl wieder auf – an allen greifbaren Frauen. Für sie ist er ein König. Hier kann er treten, statt getreten zu werden, mit gutem Gewissen treten, denn die „Natur“ hat es ja so gewollt. Und je miserabler er sich fühlt, hier unfähiger er im Wettstreit mit anderen Männern ist, umso ausgiebiger wird er jene treten, die er treten darf, weil sie ja „schlechter“ sind, und die sich treten lassen, weil sie dazu erzogen wurden: die Frauen.
In Rassenfragen ist das nicht anders. Was wäre ein weißer Dummkopf in Afrika, wenn er nicht überzeugt wäre, zur „Herrenrasse“ zu gehören? Und wohin käme ein Trottel, wenn er sich nicht sagen könnte: Ich bin besser als die Hälfte der Menschheit, als alle Frauen? Um seine persönlichen Grenzen nicht einzugestehen, zieht er Grenzen quer durch die Welt und teilt sich auf in „Gut“ und „Schlecht“. Er ist natürlich auf der richtigen Seite – haushoch überlegen, den „minderwertigen Rassen“ und dem „schwachen Geschlecht“.

Der Mexikaner sagt von sich selbst, daß er nie erwachsen wird. Er sucht sein Leben lang die Mutter – so viele Mütter wie nur möglich: Frauen, die ihn nie enttäuschen, die ihn blindlings bewundern und seine Launen ertragen. Er hat die Mutter zu Heiligen erhoben und ihr Denkmäler gesetzt, weil sie ihm immer vergibt


Der Mexikaner hat gleich beides in einen Topf geworfen: Die Frau ist nicht nur das Weib, das ihm Gehorsam schuldet. Sie ist auch das Symbol der unterlegenen Rasse: der Indianer. Jeder Mexikanern, und habe er noch so wenig spanisches Blut in seinen Adern, fühlt sich wie der Spanier, der die Frauen einer unterworfenen Rasse vergewaltigte und wieder wegwar.f Die Frau ist zum Sinnbild der Niederlage geworden, der Mann zum Symbol des Eroberers. Diese tragische Dualität hat sich zum üblichen Kampf der Geschlechter hinzugesellt. Ihr verdankt die Mexikanerin, daß sie die ärmste Frau Südamerikas ist.
Es gibt nur wenige schöne Tage in ihrem Leben. Genauer gesagt: die üblichen sechs Monate zwischen Verlobung und Hochzeit. Während dieser Zeit gibt der Mann sich alle Mühe, den Sitten zu gehorchen. Dazu gehört in erster Linie der täglichen Spaziergang. Die Nachbarn müssen sehen, daß die Señorita in festen Händen ist und nicht Gefahr läuft, eine alte Jungfer zu werden. Dass ich jedoch ebenso wenig in Gefahr schwebt, zu früh entjungfert zu werden, muss auch bewiesen werden. Dafür sorgt die Mutter der Braut, die den Liebesbummel wachsam betreut.

Die Mexikanerin kennt nur wenige zärtliche Tage in ihrem Leben: die Zeit zwischen Verlobung und ihr. Später interessiert den Mann nur noch Ihre Treue. Um nicht zu riskieren, sperrt er sie einfach ein

Das lohnt sich meistens. Genügen doch schon ein paar Minuten unbeobachteten Alleinseins, um dem Bräutigam in Erinnerung zu bringen, was er seiner Männlichkeit schuldig ist: den Beweis der Liebe. So nennt er die Vorwegnahme der Hochzeitsnacht.
„Wenn du dich weigerst, kann ich nicht an deine Liebe glauben“, jammert er.
Mutter, Tanten und Nachbarn haben dem Mädchen eingeschärft, einem Mann nie zutrauen. Aber unsere Señorita liest vielleicht französische Romane und sieht amerikanische Filme, die, wie sie glaubt, ihrer Generation eher gerecht werden als das Geschwätz alter Frauen. Sie ist vielleicht auch wirklich verliebt und will es nun mal wissen.
„Ich kann eine entehrte Frau nicht heiraten“, meint der Bräutigam hinterher gelassen.
„Aber du warst es doch“, schreit die Braut, die schon keine mehr ist, „ich habe dir den Beweis meiner Liebe erbracht. Nur dir. Du. Oh, ich liebe dich so …“
„Wer dich entehrt hat, ist Nebensache“, sagt er mit einer Spur Melancholie in der Stimme. „Wenn auch ich es war, so bist du jetzt entehrt. Adios.“ Und er schreitet jetzt stolz an dem schluchzenden Mädchen vorbei in die Freiheit.

Die ständige Selbstbestätigung der Supermänner nennt sich „Machismo“. Dabei hat jeder seine Technik. Man kann in lässige Haltung Daumen lutschen oder feierliche eine schwören. Man kann auch den „einzigen Beweis der Liebe“ fordern und so das Mädchen zu m Fehltritt zwingen


Gewissensbisse? Die kennt er nicht. Er hat seine Aufgabe, Mann zu sein perfekt gelöst. Sie hat ihre Rolle als Frau verraten und muß büßen. Dem Gesetz nach müßte er sie jetzt heiraten oder ins Gefängnis gehen, bis er sich dazu entschließt. Aber welche Familie will die Schande ihrer Tochter schon vor ein Gericht bringen. Man wartet lieber, bist ein anderer kommt, oder begnügt sich mit einem mann, der nur eine Konkubine gesucht, weil er schon eine Frau hat.
Es ist verständlich, daß die Mutter zur Ehe drängt Sie kennt die Männer. Aber manche Braut kennt sie auch. Deshalb versucht sie, die Verlobungszeit in die Länge zu ziehen. Sie weiß genau, daß ihr Mann nach der Hochzeit nie wieder mit ihr ausgehen wird. Selbst ihr Körper interessiert ihn nicht mehr. Er gehört ihm nun, und damit hat sich’s. Die Frau wird ihre endgültige Bestimmung übergeben: Kinder und Hausarbeit. Und der Mann geht seinem Gewerbe nach: dem „Machismo“ – der Superbestätigung des Supermannes.
Das einzige, was ihn an seiner Frau noch interessiert, ist Ihre Treue. Da kennt er keinen Spaß. Geht es doch um seinen Ruf als „machen“. Niemand darf jenen Platz einnehmen, den er – wenn auch nur ungenügend – ausfüllt. Mia o de nadie – „mir oder keinem“, ist seine Devise. Und du ihr gerecht zu werden, sperrt er seine Frau zu Hause ein.
Selbst in Kreisen reicher Leute wird die Frau streng bewacht. Bei Einladungen haben wir erlebt, wie Frau oder Tochter von Mann oder Vater zum Abendessen gebracht wurden und pünktlich um elf Uhr von der Frau des Gastgebers wieder zu Hause abgeliefert wurden.
Nur ein kleiner Kreis, eine Mischung von künstlerischer Avantgarde und neureichen Sittenbrechern, versucht in Mexico City das „frei Europa“ nachzuahmen. Darunter verstehen sie Zusammenkünfte, bei denen Rauschgift genommen wird und wo zum Schluss niemand mehr genau weiß, wer was mit wem getan hat.


Eine Frau, die Hochzeit feiern kann, hat Glück gehabt. Viele Männer ziehen es vor, in wilder Ehe zu leben und gleichzeitig mehrere solcher Ehen zu führen. Mit Wohnung und Kindern und allem, was dazugehört

Aber das ist gar nicht mexikanisch. Orgien sind international. Der echte Mexikaner sperrt seine Frau ein und amüsiert sich mit anderen. Je nach Geldbeutel besitzt der eine, zwei oder mehr „casas chicas“ (kleine Wohnungen), die er seinen festen Mätressen eingerichtet hat. Das sind keine Dirnen. Meistens handelt es sich um Mädchen, die dem Drängen eines Verlobten zu früh nachgegeben haben und auf eine weiße Hochzeit verzichten mußten, oder um Frauen aus kleinen Verhältnissen, die lieber die Geliebte eines gutgestellten Herren sind, als in Hinterhöfen einem trunksüchtigen Ehemann Kinder zu gebären.


Die „casa chica“ ist ein zweites Heim. Hier verbringt der Mann ebensoviel Zeit wie zu Hause. Natürlich ist es unter seiner Würde, der Empfängnisverhütung auch nur einen Gedanken zu widmen, geschweige denn, sich aktiv darum zu kümmern. Die Frauen versuchen, was sie können. Trotzdem laufen auch in allen diesen kleinen Wohnungen Kinder herum, die der Mann anerkennt – oder ignoriert, je nach Laune.
Und die Söhne lernen ihrerseits durch das Vorbild des Vaters, wie ein Mann sein muß, um einen richtigen „macho“ darzustellen. Sie sehen, wie er ihre Mutter behandelt und zurechtweist oder vernachlässigt. Sie erleben, wie sie alle Misshandlungen hinnimmt oder höchstens mit Jammern quittiert. Sie lernen schnell, daß die männliche Überlegenheit nur mit der Erniedrigung der Frau erkauft werden kann. Wie sollten sie auch Achtung vor einem Menschen haben, der ich so bedingungslos unterwirft.
Die heimliche Rache der Mutter bleibt ihnen verborgen: mit dem Milchmann, mit Papas Freunden, dem Lehrer oder dem Arzt. Sie rächt sich, wo sie kann. Die Kinder sehen nur, wie sie sich erniedrigt, um ihren Mann zu halten. Aber sie weiß, warum. Sie weiß, dass er jeden Tag davongehen kann wie ein Fremder. Wenn er des Gejammers müde oder des Geldausgebens überdrüssig ist, vergißt er schnell die Liebe zu seinen Sprösslingen. In Mexiko gibt es Millionen Kinder, die ihren Vater kaum oder gar nicht kennen.
Was Frauen tun müssen, oder glauben tun zu müssen, um einen Mann zu halten, erfahren wir in Mexico City. Dort haben wir drei Frauen kennengelernt, die den gleichen Mann haben. Dolores (34), Carmen (43) und Maria (22).
Den Mann kennen wir seit Jahren: Carlos (50), ein Ingenieur, der es verstanden hat, seine guten Beziehungen zur Regierungspartei in Geld umzusetzen. Bis jetzt hatten wir ihn immer nur in Bars oder Restaurants getroffen. Aber eines Tages lädt uns nach Hause ein.

Ein Mexikaner führt seine Frau nur selten aus. Und wenn, dann nur als reich behängtes Abzeichen seiner Manneswürde


Eine moderne Villa im eleganten Llomas. Ein Sohn, zwei Töchter und Dolores. Die Dame des Hauses empfängt uns in einem teuren Abendkleid. Alles an ihr strahlt Sex und Selbstsicherheit aus. Ein Kilo Gold an den Armen und zwei Reihen echter Perlen helfen dabei. Sie sieht aus wie die exzentrische Frau eines reichen Mannes.
Später erfahren wir, daß sie gar nicht seine Frau ist. Trotz Bettelns und wilder Szenen, trotz Selbstmordversuchs und der Drohung, die Kinder zu töten, hat sie Carlos nie dazu bewegen können, sie offiziell zu heiraten. Vor 14 Jahren hatte er lange um sie geworben und ihr die Ehe versprochen. Als sie ihm jedoch gestand, nicht mehr Jungfrau zu sein, schlug ihr vor mit ihm zu leben, ohne vor den Altar zu treten. Er war reich genug, um sich nebenher viele Abenteuer zu erlauben. Solange es flüchtige Begegnungen waren, störte Dolores wenig. Als Carlos jedoch immer unregelmäßiger nach Hause kam und oft tagelang nichts von sich hören ließ, bekam sie panische Angst. Das Schicksal der meisten Frauen war auch ihr nicht erspart geblieben: Ihr Mann hatte zwei neue Haushalte gegründet, zwei „casa chicas“. Dolores erhielt von nun an auch weniger Geld. Und der Kampf begann, der verzweifelte Kampf um den Mann.
Zunächst tat sie alles, um wieder schwanger zu werden. „Wenn ich ihm einen Sohn schenke, wird er stolz auf mich sein“, dachte sie. Es half nichts. „Kinder sind teuer“, meinte Carlos und blieb nicht einmal am Tage der Geburt zu Hause. Dolores erfuhr, daß er mittlerweile Zwillinge mit Carmen hatte.
Jetzt suchte sie andere Wege. Sie hatte erfahren, daß es Tropfen gibt, die verliebt machen. Eine befreundete Apothekerin besorgte sie ihr. Und diesmal schien es zu klappen. Als sie die Tropfen bei der ersten Gelegenheit in Carlos Getränk mischte, glaubte sie, ihre Flitterwochen wieder zu erleben. Zwei Wochen ging es so. Carlos schien zu glauben, daß er seine neue Jugend nur der Schönheit von Dolores zu verdanken habe. Er blieb jeden Abend zu Hause und wartete auf das ungewohnt wohlige Gefühl, daß sich wie ein Wunder nach dem zweiten Martini einstellte, wenn du Dolores sich neben ihn setzte.
Eines Abends jedoch stürmte er nach dem ersten Martini davon. Zu Maria, wie sich später herausstellte. Maria hatte ihm nämlich ein Ultimatum gestellt. Sie konnte sich härteren Methoden erlauben. Denn sie hatte keine Kinder, und die sie bangen mußte. Diese Gefahr hatte sie radikal aus der Welt geschafft. Als sie Carlos kennenlernte und er eine nette Wohnung auf ihren Namen gekauft hatte, war sie mit sich ins Gebet gegangen: „Ich habe wenig Chancen, je geheiratet zu werden“, hatte sie sich gesagt. „Wenn ich Glück habe, viel Glück, werde ich in dieser Wohnung alt werden als die Geliebte von Carlos – oder eines anderen. Wenn ich Pech habe und verlassen werde, dann muß ich mit mehreren Kindern in einen Keller ziehen, um von der Mieter dieser Wohnung leben zu können. Wenn ich jedoch klug sein will, muß ich vermeiden, Kinder zu haben. Dann kann ich weiterhin als Sekretärin arbeiten. Ich bleibe frei und brauche nie vor den Launen der Männer zu zittern.“
Und sie hatte sich sterilisieren, für immer fruchtbar machen lassen. Mit neunzehn Jahren. Sie griff zu diesem radikalen Mitteln, weil sie Angst vor sich selbst hatte, Angst vor ihrem Wunsch nach Kindern, dem sie in einer schwachen Stunde sicherlich unterlegen wäre.
„Wenn eine Frau die Achtung vor sich selbst behalten will, muß sie reich sein – oder kinderlos“, sagte sie uns. „Wenigstens hier.“
„Geht die Würde nicht bereits verloren, wenn man sich verkauft?“ fragten wir.
„Nennen Sie mir eine Frau, die es nicht tut in Mexiko gibt es keine Liebe. Von Zärtlichkeit ganz zu schweigen. Hier kennt man nur Sex und Geld – und Kinder natürlich, die uns Frauen adeln, wie man so schön sagt. Dabei ketten sie uns nur an ungeliebte Männer oder sie enden in der Gosse, weil die Väter davonrennen.“
Maria ist bei weitem nicht so hübsch wie Dolores. Sie hat ihr zwar die Jugend voraus, ich kann mir jedoch vorstellen, dass neunzig von hundert Männern sich ohne Zögern für Dolores entscheiden würden. Trotzdem lief Carlos in jenen „zweiten Flitterwochen“ von Dolores eiligst zu Maria, als sie ihn gegen sein ausdrückliches Verbot zu Hause anrief.
Dolores gab nicht auf. Mittlerweile hatte ihre Schwester, die gesetzlich getraut war, ein Mittel empfohlen, das bei ihrem Mann eine gewisse Wirkung nicht verfehlte. Es handelt sich um einen kleinen chirurgischen Eingriff, dem viele Frauen in Mexico City sich unterziehen, um die durch mehrere Geburten erschlafften Muskeln wieder zu straffen. Plastische Operation nennt man das hier. Meistens lassen die Frauen sich gleichzeitig den Busen etwas anheben und die Falten aus dem Gesicht entfernen.
Dolores versuchte auch dies. Anfangs hatte sie ebensoviel Erfolg wie ihre Schwester. Dann aber begann langsam wieder die alte Routine: Carlos kam zum Mittagessen, wenn es ihm Spaß machte, und blieb so lange weg, wie er Lust hatte.
Als Dolores erfuhr, daß Carlos gar nicht – wie sie immer annahm – den Großteil seiner Freizeit mit der jungen Maria verbrachte, sondern in Pantoffeln und Schlafrock bei der ältlichen Carmen Zeitung las oder Karten spielte, brach sie völlig zusammen. Alle ihre Erniedrigungen und Bemühungen waren umsonst. Sie mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden. Carlos nahm die besten Ärzte. Der Abend, an dem wir sie kennenlernten, war zur Feier ihrer Genesung organisiert worden.
Carmen kann man beim besten Willen nicht hübsch nennen. Jeder einzelne Tag ihrer 43 Jahre hat seine Spuren hinterlassen. Sie gleicht einer gutgekleideten Marktfrau mit liebevollen Augen.
Es scheint auf den ersten Blick unverständlich, daß Carlos gerade ihr den größten Teil seiner Zeit widmet und, wie wir erfahren, auch das meiste Geld gibt. Auch sie ist nicht seine legitime Frau. Carlos ist überhaupt nicht verheiratet. Er betrachtet jedoch Dolores mit der schönen Wohnung als das eigentliche Zentrum seine Existenz. Hier hat er seine „richtige“ Familie, die meisten Anzüge und die schönsten Pyjamas. Wenn er Freunde empfängt, dann nur in der eleganten Villa bei Llomas, wo er die schöne und reich geschmückte Dolores als seine Frau vorstellt.
Carmen hingegen ist der Ruhepunkt – die Mutter. Sie hätschelt ihn und gibt ihm sogar Ratschläge, wie er Maria und Dolores behandeln soll. Er kann ihr alles erzählen. Sie stellt auch keine Ansprüche an seine Liebe, bringt ihn da nicht in Verlegenheit: Trotz seiner feurigen Gebärden und der Theorie des „machismo“ ist der Mexikaner nämlich ein fauler Liebhaber.
Was er ein Leben lang suchte, ist die Mutter – so viele Mütter, wie nur irgend möglich. Eine ganz besondere Art von Müttern: Frauen, denen er voll vertrauen kann, die ihn nie enttäuschen, die blindlings seine Herrschaft annehmen und seine Launen dulden. Im Grunde will er zeitlebens das verantwortungslose Kind bleiben, das tun und lassen kann, was es will, und rückhaltlos bewundert wird: ein Junge, der Recht auf alles hat – weil er kein Mädchen ist.
Der Mexikaner hat die Mutter auch prompt zur Heiligen erhoben. Aber welches Bild der Mutter? Das gefügige Weib. Die heilige, d.h. die der Entsagung geweihte Frau.
Es gibt kaum etwas Zynischeres, aber auch nichts Logischeres als die Verherrlichung der mexikanischen Mutter: Ohne diese gequälte Frau müßte der Mann erwachsen werden, ein Mensch mit Verantwortung.
Man behandelt die Frau nicht anders als die Indianer. Auch ihnen wurden Denkmäler errichtet und Feste gewidmet. Aber wenn auch achtzig Prozent allen mexikanischen Blutes indianisch ist, so sind die Reinsten unter ihnen auch die Ärmsten des Landes. In der rassischen Dualität Mexikos sind die Indianer das weibliche Element und werden entsprechend getreten.
Die sexbetonte Überheblichkeit des Mannes liegt wie ein Albdruck über dem ganzen Land und bestimmt alle Formen des Zusammenlebens. Liebe und Toleranz werden als Schwäche ausgelegt. Nur Wille zur Macht und rücksichtsloses Durchsetzen gelten als Tugenden des Mannes. Nicht aus Zufall war die mexikanische Revolution (1911 bis 1920) überaus grausam und blutig: eine Million Opfer. Es überrascht ebensowenig, dass der Aufstand nicht zum Sieg der Bauern führte. Eine neue Klasse von Geschäftemachern hat die Feudalherren abgelöst. Mit ein wenig mehr Demagogie und etwas weniger Gewalt werden die Armen ebenso gründlich ausgebeutet wie zuvor.
Auch das hat mit der Frau zu tun. Sie ist, wie überall, der Schlüssel zur Gesinnung des Mannes. Um seine Einstellung zur Welt zu erkennen, genügt es, seine Haltung zur Frau zu analysieren. Wer die Frau als gleichwertigen Menschen anerkennt, wird auch für Gerechtigkeit und Gleichheit sein. Wer von der Ungleichheit (nicht Verschiedenheit) der Geschlechter überzeugt ist, wird soziale Ungerechtigkeit gutheißen und Unterdrückung dulden oder sogar fördern. Er wird auch nicht daran zweifeln, einer „besseren“ Rasse anzugehören. Nicht zufällig haben alle faschistischen Diktaturen die Frau in ihre „weiblichen Grenzen“ der „drei K“ verwiesen (Kirche, Küche, Kinder).
Revolution können das politische Gesicht der Erde verändern. Freiheit wird es jedoch erst geben, wenn kein Schwachkopf sich mehr einbildet, auserlesen zu sein und Vorrechte zu haben, weil er eine andere Hautfarbe hat oder zufällig mit zwei Hoden zur Welt gekommen ist.

Im nächsten Stern
Kuba: Gewehr, Popo und Optimismus

Back To Top